Für einen normalerweise nüchtern rechnenden Techniker wie ihn war diese Situation gewöhnungsbedürftig. Und die Heftigkeit, mit der sie sein Gefühlsleben ins Wanken brachte, gefiel im überhaupt nicht.
Aber wie jeder andere junge Mann hatte auch er oft Gedanken darüber angestellt, wie seine Traumfrau aussehen würde und welche Eigenschaften ihm wichtig schienen.
Und seit diesem ersten Blick in ihre Augen waren alle diesbezüglichen Fragen schlagartig beantwortet.
Und er spürte ohne den geringsten Zweifel, dass er der Frau begegnet war, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde.
Er hatte keine Ahnung, wie er sie für sich gewinnen sollte, oder wohin sie dieses gemeinsame Leben führen würde.
Aber er war sich vollkommen sicher, dass er es mit ihr und keiner Anderen verbringen wollte.
Nach einigen weiteren Begegnungen im Zeichenbüro und wenigen belanglosen Sätzen hatte er sich ein Herz gefasst und sie zu einem Besuch in eines der örtlichen Kinos eingeladen.
Welcher Film gezeigt wurde, konnten sie später beide nicht mehr sagen. Aber daran, dass er während der gesamten Vorstellung ihre Hand gehalten hatte und an seinen ersten schüchternen Abschiedskuss vor dem Haus ihrer Eltern, erinnerten sie sich oft.
Schon als sie sich kennen lernten, war die Gouvernementshaupstadt Samara die sechstgrößte Stadt Russlands und hatte mehr als eine Million Einwohner.
Flugzeugbau, Weltraumtechnik und die schnell wachsende Ölindustrie begünstigten ihre Entwicklung zu einer wichtigen Industriestadt.
Und ihre Lage direkt am Ufer des imposanten Wolgastroms und ihre langen warmen Sommer hatten schon immer Kulturschaffenden wie Tolstoi, Gorki oder Schostakowitsch angelockt.
Und so verbrachten sie die Freizeit ihres ersten kalten Winters gemeinsam in den Kinos und den vielen gemütlichen Lokalen der Stadt.
Und ihren ersten gemeinsamen Sommer bei langen Spaziergängen am Ufer der Wolga oder mit einem heimischen Schiguli-Bier in einem der zahlreichen Biergärten der Umgebung.
Als junger Ingenieur wohnte er in einem Wohnheim der Fabrik mit vier Kollegen in einer winzigen Behausung mit Gemeinschaftsbad.
Und sie als frisch ausgebildete technische Zeichnerin noch in einem bescheidenen Zimmer bei ihren Eltern, die nur wenig entfernt von der Fabrik ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieben.
Eine eigene Wohnung war für Berufsanfänger in ihrem Alter ein unerfüllbarer Traum.
Und das änderte sich erst, als Juri im Frühling 1983 vor ihr auf die Knie sank und sie bat seine Frau zu werden.
Ihre Eltern kannten ihn schon lange, und waren froh, dass ihre Tochter mit dem jungen aufstrebenden Ingenieur eine ausgezeichnete Wahl getroffen hatte.
Mit ihrem kleinen Lebensmittelladen schafften sie es, selber gerade so sich über Wasser zu halten, und waren kaum in der Lage ihrer Alina die Ausbildung zu ermöglichen.
Viel mehr konnten sie ihr leider nicht mit auf den Weg geben.
Aber gemeinsam verdienten die beiden genug, um sich nach ihrer Hochzeit im Oktober eine bescheidene Zweiraumwohnung in der Nähe der Fabrik zu suchen.
Und als er dann im Herbst 1986 das Angebot bekam, den Posten des leitenden Montageingenieurs in Baikonur zu übernehmen, brauchten sie beide nicht lange überlegen.
Seinem Vorgänger war die Angewohnheit aus Sparsamkeit lieber den billigen und illegal gebrannten einheimischen Wodka, statt den russischen zu kaufen, zum Verhängnis geworden.
Zusammen mit der Überschätzung seiner eigenen Fahrkünste, und dem Umstand, dass man Sicherheitsgurte in sowjetischen Militärfahrzeugen zu dieser Zeit noch für unnötigen Ballast hielt, führte das dazu, dass eine standhafte kasachische Fichte sein Dienstverhältnis vorzeitig beendete.
Und Familie Wassiljewitsch war mittlerweile durch die Zwillinge Marija und Michail komplettiert worden. Deshalb war die Aussicht auf eine größere Dienstwohnung und eine erhebliche Erhöhung seines kargen Ingenieursgehaltes extrem verlockend.
Also hatten sie im Oktober 1986 ihre wenigen Habseligkeiten, als Zuladung auf einen LKW geladen der Ersatzteile nach Baikonur brachte, und waren selbst fast drei Tage in der russischen Staatsbahn unterwegs, um die 1500 km zurückzulegen.
Zu jenem legendären Ort von dem zwei Wochen vor Juris Geburt, im April 1961, sein Namensgeber Juri Gagarin an Bord der Wostock 1 als erster Mensch in der Geschichte in den Weltraum gestartet war.
Und jetzt, fast 45 Jahre später, schaute er in anbrechenden kasachischen Morgen und verspürte noch immer die gleiche Anspannung wie vor den unzähligen vorherigen Starts, die er mit seiner Mannschaft vorbereitet hatte.
Gemeinsam hatten sie fast drei Monate auf diesen einen Moment hingearbeitet und in wenigen Minuten würde sich entscheiden, ob ihre Arbeit erfolgreich war oder nicht.
Ab dem Augenblick, in dem der Startcomputer die Kontrolle über alle Systeme übernahm und Zündung der gigantischen Triebwerke auslöste, war es für jede Korrektur zu spät.
Das richtige Funktionieren von tausenden Einzelkomponenten entschied in Bruchteilen von Sekunden über Erfolg oder Misserfolg ihrer Anstrengungen und damit über die komplette Mission.
Gestern war er zum letzten Mal zur Startrampe gefahren und hatte zusammen mit anderen die Betankung und die finalen Checks an den Triebwerken überwacht.
Bevor sie abfuhren, hatten sie gemeinsam einen Blick zurückgeworfen.
Dort stand, wie ein Raubtier zum Sprung geduckt, die Sojus-Fregat mit ihrer 600 kg schweren Nutzlast an der Spitze. Die Abendsonne tauchte sie in sanftes Licht, aber jeder von ihnen wusste genau, dass es kaum etwas Explosiveres auf dem Planeten gab als eine Sojusrakete, die vollbetankt auf ihren Start wartete.
Mit ihren randvollen Tanks und der kostbaren Fracht auf ihrer Spitze wog sie jetzt über 300 Tonnen und ragte fast 44 Meter in den Himmel.
Und ein einziger Funke oder eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe könnten ausreichen, um sie und alles andere im Umkreis von einem Kilometer innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche zu verwandeln.
Juri schaute noch einmal in den Nachthimmel und dachte daran, dass er Alina von dem Anruf erzählen musste. Und dem Angebot, das er vor drei Tagen erhalten hatte.
Der Leiter der Raketenfabrik in Samara hatte ihn angerufen.
Es war ein offenes Geheimnis, dass die guten alten Sojus-Triebwerke trotz ihrer Robustheit ihre Lebenserwartung längst überschritten hatten, und einem neuen und moderneren Triebwerkstyp weichen sollten.
Aber bei der Entwicklung und Konstruktion eines Nachfolgemodells kam es immer wieder zu Rückschlägen, und der ehrgeizige Zeitplan, den Moskau vorgab, war schon lange nicht mehr zu halten.
Deshalb hatte man Juri den Vorschlag unterbreitet, mit seiner Erfahrung und Kompetenz nach Samara zurückzukommen und den Posten des leitenden Entwicklungsingenieurs zu übernehmen.
Ein Angebot dass ihn im ersten Moment mit Stolz erfüllte. Und dass jeder Hinsicht eine deutliche Verbesserung für ihn bedeutete.
Aber es würde für ihn gleichzeitig bedeuten, auf dieses geliebte Fieber zu verzichten, dass die Startvorbereitungen mit sich brachten.
Diese langsam steigende Anspannung, die sich zuerst täglich, und mit näher kommendem Starttermin stündlich und minütlich erhöhte.
Diese kribbelnde Unruhe, die dafür sorgte, dass sein Körper das Adrenalin freisetzte, dass er nach all der Zeit mehr brauchte als seine Zigaretten.
Und das war der Grund, warum er gezögert hatte Alina von dem Telefonat zu erzählen.
Er spürte genau, wie sie sich manchmal im Stillen aus der kasachischen Einsamkeit zurück in ihr geliebtes Samara wünschte.
In diese pulsierende und faszinierende Stadt an der majestätischen Wolga.
Mit ihrer kulturellen Vielfalt und all den vielen Möglichkeiten, die sie hier so vermisste. Sie würde keine Sekunde zögern die Koffer zu packen um, wie sie es ausdrückte, wieder zurück in die Zivilisation zu kommen.
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