Anna öffnet mit Anstrengung ihre Augen. Das Herz klopft wild und ein gieriger Atemzug beweist, dass sie soeben unwillkürlich die Luft angehalten hat. Sie wollte von den Eisdrachen nicht entdeckt werden, wozu das Ausatmen unweigerlich geführt hätte. Aber wieso eigentlich?
»Das war doch nur ein Traum!«, versucht sich das Mädchen, zu beruhigen. »Drachen spucken normalerweise Feuer, wenn sie in Geschichten auftauchen, aber keine Eisspeere!« Das hat sie noch nie gehört oder gelesen, aber warum träumt sie ein derartiges Durcheinander? Ob es damit zu tun hat, dass sie vor dem Einschlafen an ihren Vater dachte, der jetzt in der Antarktis unterwegs ist? Anna lässt sich wieder aufs Bett sinken. »Schnee und Eis gibt es am Südpol jede Menge, Berge und sicher auch Höhlen. Wölfe gibt es dort jedoch nicht! Und wie komme ich dazu, von einem Elfenbogen zu fantasieren? Derartige Dinge in einem Traum zusammenzufassen, ist komisch, zumal ich weder von den Tieren, noch von Elfen gelesen habe.« Annas Blick wandert zu ihrem Schreibtisch, doch im Dunkeln der Nacht kann sie dort fast nichts erkennen. Lediglich ein feines, bläuliches Leuchten scheint von der Stelle auszugehen, wo die Bilder von Vater und Mutter an der Wand hängen. Annas Blick wandert zum Fenster. Wird ein derartiges Licht von draußen hereingeworfen? Am Nachthimmel sind einige Sterne hinter schnell ziehenden Wolken zu erkennen, sonst nichts. Nicht einmal der Mond ist zu sehen. Dann huscht ein dunkler Schatten am Fenster vorbei und ein lautes Krächzen schallt herein. Anna versucht, ihre aufflackernde Angst durch Logik einzudämmen und zwingt sich, langsam zu atmen. »Der Schrei stammt vermutlich von einer Eule, die auf der Jagd nach einer Maus ist. Das ist im Traum zu hören gewesen und wurde von meinem Gehirn in eine abenteuerliche Geschichte verwoben.« Dass eine Eule sich bei der Jagd nicht durch ein Geräusch verrät, fällt ihr nicht auf. Genauso wenig, dass der Schrei nicht zu einer Eule passt. Das Krächzen klang eher nach einem Rabenvogel! Trotz dieser Widersprüchlichkeiten schlummert Anna wieder ein. Den Rest der Nacht träumt sie nicht.
Eine Schwarzdrossel klappt die Augendeckel mehrfach auf und zu. Den Kopf dreht sie wachsam nach links und rechts, und den hell leuchtenden, gelben Schnabel streckt sie nach vorne. Der Vogel sitzt auf einer von vielen Spitzen eines alten Eisentors und trillert mehrmals. Das gelb umrandete Augenpaar hat etwas entdeckt. Das Tier flattert mit kurzen Flügelschlägen von seinem Hochsitz. Es wirkt fast wie ein schneller Sprung und die Drossel landet entfernt zum Weg unter einem Gebüsch. Sie legt den Kopf schräg, hüpft zweimal vorwärts, wartet kurz und pickt mit der Schnabelspitze in den weichen Untergrund. Der Kopf wird zurückgezogen, um dann erneut den Schnabel in den Boden zu stoßen. Erdbrocken fliegen zur Seite. Dieser Versuch ist erfolgreich. Ein Regenwurm wird langsam aus dem Erdreich gezogen. Jetzt ist es geschafft. Ein kurzer frohlockender Ruf des Vogels, dann fliegt er mit seiner Beute im Schnabel davon. Er sucht das Junge, das in der Nähe auf dem Boden herumhüpft.
Vom Tor führt ein mit kleinen Kieseln bestreuter Weg zu einem imposanten Gebäude. Es ist ein ehemaliges Schloss, das mit vielen Spitzen und Türmchen verziert ist. Die drei Etagen bieten mit den vielen Fenstern einen beeindruckenden Anblick. Das Haupthaus und seine Nebengebäude werden seit Jahrzehnten als Internat genutzt. Landesweit ist das »CC«, wie es oft abgekürzt anstatt »Cinnt caisteal« genannt wird, eine angesehene Einrichtung. Anders als in vielen sonstigen Schulen, liegt dessen Schwerpunkt nicht nur im Sport, was sich auch in ihrem Leitspruch ausdrückt: »Scientia potestas est.« Das bedeutet: »Wissen ist Macht.«
Am Spätnachmittag findet an manchen Tagen kein Unterricht in den Klassenräumen statt. Trotzdem gibt es keinen Müßiggang, da diese Zeit für vielfältige Aktivitäten genutzt wird. Die Schüler und Schülerinnen üben entsprechend ihren Neigungen Fähigkeiten, die sehr unterschiedlich sind.
Auf dem weitläufigen Gelände, das mit Mauern von der Umwelt abgegrenzt ist, werden Leichtathletik und Mannschaftssportarten trainiert. Auf den Rasenflächen hinter dem Haupthaus finden verschiedene Ballsportarten statt. Die Mannschaften werden von denen angefeuert, die gerade pausieren. Meistens tragen sie kleine Turniere untereinander aus, was die Fähigkeiten der einzelnen Spieler besonders fordert. Sie bereiten sich auf Vergleichswettkämpfe mit anderen Schulen vor, die im Herbst stattfinden sollen.
Im spätsommerlichen, warmen Wetter halten sich die meisten Schüler jedoch am nahegelegenen Fluss auf. Der Sport auf und im Wasser findet regen Zuspruch. Es wird geschwommen und in verschiedenen Booten gerudert, teilweise auch hier als Vorbereitung für die Herbstwettkämpfe.
Aber auch im Internatsgebäude halten sich Schüler auf. Manche haben sich in den Schatten der Gänge im Inneren zurückgezogen und diskutieren in kleinen Gruppen über Themen aus dem Philosophie- oder Rechtskunde-Unterricht. Einige rätseln über gestellte Mathematikaufgaben oder unterhalten sich auch einfach über private Dinge. Die großformatigen Bilder an den Wänden werden kaum beachtet. Manche von ihnen stellen Szenen dar, die zu Diskussionen über Themen zur Weltanschauung passen, oder sie zeigen Geschehnisse der Geschichte.
Im Lesesaal der Bibliothek sind viele Tische besetzt. Dort studieren Jungen und Mädchen in alten Wälzern. Die darin enthaltenen Informationen werden für Ausarbeitungen und andere Hausaufgaben genutzt.
Im Mittelbereich des Hauptgebäudes befindet sich im Erdgeschoss ein großer Speisesaal, in dem fast schon alle Plätze der langen Tischreihen für das Abendessen gedeckt sind. Viele Helfer sind hier tätig, wobei auch Schüler der oberen Klassen eingesetzt werden. Auf einem Servierwagen transportieren drei von ihnen Geschirr und Besteck. Sie bleiben am Ende einer der Tischreihen stehen und hüsteln demonstrativ. Sie wollen eine Gruppe von Schülern vertreiben, die zwei Jungen umstehen. Die sitzen sich gegenüber und sind mit Schachspielen beschäftigt.
»Jetzt ist es genug. Warum spielt ihr nicht woanders? Wir müssen die Tische vorbereiten und benötigen den Platz!« Nur widerstrebend heben die Spieler ihre Köpfe.
»Wir sind in wenigen Minuten fertig«, antwortet der ältere der beiden. »In vier Zügen ist mein Gegner schachmatt.« Der Jüngere nickt nach kurzem Überlegen und murmelt:
»Stimmt.« Er legt seinen König hin, was sofort ein Grinsen in das Gesicht des anderen zaubert. Die Jungen erheben sich.
»Ihr könnt weitermachen«, wendet sich der Ältere herablassend an die drei Schüler und richtet sich zu voller Größe auf. Der Unterlegene verstaut die Figuren in dem zusammenklappbaren Schachspiel.
»Ich wollte doch auch noch gegen Alexander spielen!«, protestiert die elfjährige Anna, die eine der umstehenden Zuschauer ist. »Ich warte seit Wochen auf die Gelegenheit dazu. Immer wieder drängen sich andere vor, so wie heute. Ich bestehe auf einem Spiel, auch wenn ich mich körperlich in diesem Gewusel nicht gegen ältere Schüler durchsetzen kann.« Das Mädchen verhindert mit Mühe, wütend mit einem Fuß aufzustampfen. Die grauen Augen blitzen zornerfüllt erst den jüngeren, dann den älteren Spieler an, wobei sie einen leicht bläulichen Schimmer annehmen.
»Was kann ich dafür?« Der gutaussehende, fünfzehnjährige Alexander schüttelt seine schwarze Lockenpracht und blickt mit einem überheblichen Gesichtsausdruck in die Runde. Er ist der unumstrittene Schach-Champion der Schule und sucht nach dem Herausforderer. Unter den Zuschauern schließt er sofort drei als Sprecher aus. Die Mädchen kommen aus seiner Klasse und spielen kein Strategiespiel, wie er weiß. Sie sind vermutlich nur hier, weil sie für ihn schwärmen. Sein Blick schweift über vier Jungen, die er bereits in der Vergangenheit mehrfach in dem Spiel geschlagen hat. Nein, die sind es auch nicht! Dann fixieren seine Augen die zierliche Anna. Sollte sie ihn gefordert haben? Aber sie ist doch eine von den Kleinen und wird erst seit Schuljahresbeginn im Internat sein. »Ich trete nicht gegen Babys an! Wenn ich auf deine Forderung eingehe, ist das Spiel schneller beendet, als es dauert, die Figuren aufzustellen. Ich will vom Gegner wenigstens etwas lernen, wenn ich schon Zeit opfere. Wenn du verlierst, und das steht für mich unumstößlich fest, wirst du vermutlich zu flennen beginnen. Wie kann das wohl meine Fähigkeiten weiterbringen?« Das laute, überhebliche Lachen wird sofort von seinen Bewunderern aufgenommen und schallt dem Mädchen ins Gesicht. Es fühlt sich an, als ob sie geschlagen worden wäre, trotzdem schaut sie den älteren Jungen trotzig an! Sie will nicht klein beigeben! Lediglich dem dreizehnjährigen Robin, dem zweiten der beiden Schachspieler, ist unbehaglich zu Mute. Er bittet Anna mit Blicken stumm um Verzeihung, da er sich tatsächlich vorgedrängt hatte. Der Junge nickt Alexander knapp zu und drängt sich aus der Mitte des Knäuels heraus. Im Weggehen wendet er sich an Anna.
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