Er setzte es bedacht auf seine freie Hand und ließ die Flügel los. Auch die Sippschaft der Waldfee entspannte sich und kam wieder näher.
Shynn ließ sich auf einem moosbewachsenen Stein nieder. Die Wesen verteilten sich alle auf die nächstliegenden Äste und fingen an, sich zu unterhalten.
Die ehemals gefangene Fee machte sich zum Sprecher ihrer Gruppe, um zu verhindern, dass er sich auf zu viele piepsige und leise Sprecher konzentrieren musste.
„Wer bist du? Und wo willst du denn hin?“, fragte sie.
Er rieb sich die Nase und antwortete: „Genaues weiß ich auch noch nicht. Im Moment nenn ich mich Shynn, bis mir mein richtiger Name wieder einfällt und ich mein komplettes Gedächtnis wiederhabe. Ich weiß, dass mir – seit ich hier bin – ein Teil dessen fehlt, und ich auch im Grunde nicht hier sein sollte...“
„Augenblick mal! Wo du hier bist, weißt du?“ kam es von einer anderen Feenkreatur.
„Ja, soviel ist mir klar, dass ich von hier komme. Aber eigentlich hatte ich ja ein völlig anderes Leben.“
„Du bist seltsam, weil du so aussiehst, als gehörst du eher hierher, und nicht in die andere Welt.“
„Ihr kennt euch anscheinend etwas aus.“
Die kleine Fee lächelte geheimnisvoll. „Ja, denn wir sind schon sehr alte Geschöpfe...“
Er war wegen diesen Worten sichtlich erleichtert und fragte: „Könnt ihr mir dann sagen, warum ich nur zum Teil hier bin? Seit ich vor nicht allzu langer Zeit hier aufgetaucht bin, fiel mir auf, dass der Ort mir nicht neu ist. Mein Name kam mir auch in den Sinn. Außerdem verfüge ich über die Erinnerungen meines Vorlebens, aber alles von weiter vorher ist mir fast vollständig entfallen. Ich verstehe und spreche die hiesige Sprache. Einiges ist noch da, aber wie ihr bemerkt habt, bin ich scheinbar auch sehr alt. Doch ich wurde als Mensch wiedergeboren, also müsste der Teil von diesem Leben auch noch hier sein, bei mir oder in mir, oder versteh ich das falsch?“
Die Wesen hörten dieser Aussage aufmerksam zu, aber konnten das Gesagte nicht wirklich erfassen, denn es war zu absurd. Das war etwas noch nie Dagewesenes. Zumindest nicht so weit sie sich auskannten.
Wie aus einem Mund kam es von ihnen: „Wie? Was? Das kann doch nicht sein! Wie ist das möglich?“ Was bei der Heftigkeit des Erstaunens auch wieder die ganze Umgebung in helle Aufregung versetzte.
Der Wind wehte heftiger, Vögel flatterten kreischend auf, Niederwild rannte umher, aber alles beruhigte sich rasch.
Shynn sagte: „Alles gut, ich kann euch nur sagen, was ich weiß. Ich war schon vor dem letzten Leben alt, in dieser Zeitspanne sind sicher Dinge vorgefallen, über die ich noch nicht bereit bin, zu reden. Auch das sollte eigentlich nicht sein, weil jede Seele vor einer Wiedergeburt – laut Theorie – automatisch gereinigt wird. Bei mir war das anscheinend nicht passiert. Und dass meine Seele anscheinend geteilt wurde, kann ich mir auch nicht erklären.“
Die Feen fragten neugierig: „Was kannst du uns über dein letztes Leben erzählen?“
„Alles, was ihr wissen wollt“, erwiderte er...
Samstag, der 30. August 1988, ABC-Schütze
Kai ging es seit den letzten Sommerferien wesentlich besser, die er mit den Eltern im Urlaub an der Ostsee verbrachte und dann bei der Heimreise das Betriebsferienlager vom Kombinat des Vaters besucht hatte, wo er voraussichtlich nächstes Jahr hingehen würde.
Während des zweiwöchigen Urlaubs in einer Bungalowsiedlung auf der Insel Rügen, kam er zu seinem Glück nur mit wenigen Kindern in Kontakt und konnte für sich viele Freiräume finden.
Er nutzte die Zeit, um auf den Wiesen zu wandern und sich die Insekten und anderen kleine Tiere, die es dort zu entdecken gab, genauer anzusehen, den Geruch des Grases und der Blüten zu riechen und dem Gezwitscher der Vögel zu lauschen.
Er rannte viel, kletterte und sprang wie ein junger Hase durch die Gegend. Er blühte sichtlich auf, weil er sich frei fühlte. Ohne dass er gezwungen war, sich mit anderen Kindern zu messen.
Der Sommer, der recht warm war, ging schnell zu Ende und für Kai sollte bald die Schule beginnen. Heute – zum Samstag – war die Schulanfangsfeier.
Da der Papa auf Geschäftsreise war, konnte er leider nicht dabei sein, so blieben nur die Oma und die Mama. Und ein Bekannter der Eltern hatte sich bereit erklärt, das Ereignis für die Familie mit einem Fotoapparat festzuhalten.
„Kai, aufstehen! Heute ist dein großer Tag! Wir müssen uns fertig machen!“ flötete seine Mama, während sie übertrieben fröhlich in sein Zimmer stürmte und die Vorhänge vor dem Fenster aufriss und wieder durch die Tür verschwand.
Es war so weit: Nun kam das, was die Großen als den „Ernst des Lebens“ bezeichneten. Die Schule. Er hatte schon eine Vorstellung, dass er nun Lesen, Schreiben, Rechnen und viele andere Dinge lernen sollte.
„Kai, los jetzt! Geh dich waschen. Deine Sachen leg ich dir hin“, drängte ihn seine Mutter mit vibrierendem Unterton durch mehrere Räume zur Eile. Kai rieb sich noch recht schlaftrunken die Augen und ging sich waschen. Er putzte sich die Zähne und fing an, Wasser für die morgendliche Katzenwäsche ins Waschbecken laufen zu lassen.
Nachdem er das erledigt und sich abgetrocknet hatte, ging er in sein Zimmer zurück und fand auf seinem Bett die Sachen vor, die er anziehen sollte, obwohl er manches davon eigentlich überhaupt nicht mochte: ein weißes, kurzärmeliges Hemd, eine hellbraune Hose, ein Unterhemd, eine Unterhose und ein paar weiße Socken mit roten Streifen am Rand.
Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken, damit den ganzen Tag herumlaufen zu müssen, wo ihm Hemden sowieso schon zu einengend waren.
Der Gedanke, dass ihm die ganzen Verwandten und Bekannten in die Wangen kneifen und ständig auf ihn einreden würden, gruselte ihn ein wenig.
Er sah aber auch den Vorteil, dass es ein paar kleinere Geschenke gab, Zuckertüte und Co. Und noch das eine oder andere Glückwunschkärtchen oder doch noch etwas extra an Süßigkeiten.
Er seufzte und zog sich den verhassten Kaftan an. Danach kämmte er sich so gut es ging seine Haare zu einem Scheitel.
In der Küche wartete schon die Mutti – fertig angezogen – in einem langärmeligem Kleid, welches er sehr mochte. Das mit dem hübschen, blau-lila-roten Muster. Toll!
Sie frühstückten zügig. Aus Zeitgründen hatte Mama die Brötchen schon mit Nuss-Nougatkrem belegt und einen Pfefferminztee für Kai eingegossen. Sie selbst trank Kaffee und aß ein Brötchen mit Honig.
Es klingelte an der Tür, und die Mama stand auf um zu öffnen. Dort wartete Kais Oma – ihre Mutter – mit einem Strauß gelber Rosen.
Sie trug eine hellbeige dünne Jacke, einen Rock mit einem Muster in braun und grau. Sie war dünner als ihre Tochter und die Haare waren schon fast weiß. Kai liebte seine Oma. Sie war viel ruhiger und gelassener als Mama und Papa. Zudem machte sie auch immer lustige Fratzen.
Sie hatte ihm auch einst geholfen, sein Lispeln und die Aussprache der Zischlaute zu verbessern, sodass er sich besser ausdrücken konnte.
Er hatte ja erst mit fast vier Jahren überhaupt etwas gesagt, was Ärzte und Eltern vor Rätsel stellte. Und vor dieser Zeit brachte die Situation die Eltern zur Verzweiflung.
Sie gingen los. Der Bekannte, Onkel Holger, erwartete sie erst bei der Schule. Auf den freute Kai sich gar nicht. Denn dieser war Offizier und immer so streng. Außerdem guckte der immer so böse durch seine stechenden eiskalten Augen.
Der Weg führte ihn durch die Plattenbauten, vorbei an seinem eigenen Innenhof mit dem Klettergerüst, dann über eine Straße an einem Haus vorbei, was ihm aufgrund seines einen Traumes bekannt vorkam. Nach einem sehr langen Block wurde ein freies Gelände sichtbar.
Auf diesem stand ein Umspannhäuschen, welches von außen mit lustigen und seltsamen Figuren bemalt war.
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