Sie fand es überaus lustig, wie sich die vor ihr sitzenden gehorsamen Vertreterinnen der Rolle, die ihnen von der Gesellschaft zugedacht war, anfangs über das ‚aufmüpfige Weibsvolk‘ geäußert hatten. Inzwischen hörten sich die Unterhaltungen über die immer erfolgreicheren Suffragetten weit respektvoller an.
Der aus England gerade in die USA schwappenden feministischen Bewegung gehörte ihre ganze Aufmerksamkeit. Und das mit ihren erst vierzehn Jahren.
Rose hatte immer schon alles wissen wollen und machte sich Gedanken über alles Mögliche. Mit sechs hatte sie ihre Mutter während eines Spazierganges im Central Park plötzlich gefragt, warum den Schmetterlingen bei ihrem doch so schaukelnden Geflattere nie schwindlig wird.
Rose war in vielfacher Hinsicht reifer als ihre Altersgenossinnen - und auch reifer als manche Erwachsene.
Und der bedauernswerte John?
Statt mit Gleichgesinnten auf der Straße toben zu dürfenunauffällig, was ja ohnehin untersagt war, oder wenigstens unbeaufsichtigt zu Hause bleiben zu dürfen, wurde er jetzt montags von Rose zu ihrem Unterricht mitgeschleppt. Was Eltern aus Fürsorge zur Sicherheit ihrer Kinder beschließen, wird von denen oft als Strafe wahrgenommen.
Immerhin musste John nicht auch noch selber den Bibelstunden beiwohnen.
Das wäre aus ganz bestimmten Gründen auch alles andere als im Sinne von Vater O’Reilly gewesen. Da fand sich eine andere, für ihn wesentlich günstigere Lösung.
Es gab einige als stichhaltig eingestufte Gründe in der Familie, dass man diese montägliche Aufsichtspflicht gegenüber John gerade Rose übertragen hatte.
Zum einen hatten montags beide Hausmädchen der Freymans üblicherweise ihren freien Tag. Nur zu ganz besonderen Anlässen wurde diese Regel durchbrochen. Die zwei Filipinas hatten diesen für die Familie ungünstigen Dienstplan ausgehandelt, obwohl Joseph Freyman zuerst heftigen Protest dagegen eingelegt hatte. Aber da die zwei Mädchen sonst niemanden in der Stadt kannten, konnte man ihnen schlecht zumuten, immer alleine auszugehen.
Der Patron hatte sich schließlich geschlagen gegeben und etwas widerwillig in diese Regelung eingewilligt.
Diese beiden fielen also aus.
Mrs. Freyman selbst konnte sich nicht um John kümmern, da sie jeden Montag am späten Nachmittag das Haus verließ, um sich mit anderen Mitgliedern ihres Wohltätigkeitsvereins zu treffen. Die spendierfreudigen Damen hatten großes Vergnügen daran, das von ihren Gatten emsig herbeigeschaffte Vermögen, wohl dosiert verteilt, in eigenes gutes Gewissen umzumünzen.
Gerade jetzt konnte Madame diese Treffen unmöglich aussetzen. Sie ging momentan ganz in ihrem neuesten Projekt auf, das darin bestand, ausreichend Geld zu sammeln, um den aktuell sehr populären Sänger Enrico Caruso für ein privates Engagement zu gewinnen.
Das war dringlich, denn man wusste nicht, für wie lange Zeit sich der Barde noch in den USA aufhalten werde.
Sein Auftritt sollte im Hause der Freymans, in dem großen Ballsaal, stattfinden. Dann wollten sie das Zehnfache der Gage als Eintritt auf die Gäste umlegen und den auf diese Weise erwirtschafteten Überschuss dem Waisenhaus am Battery Park zukommen lassen.
Keineswegs wollten sie sich selber im Glanze des berühmten Tenors sonnen, ganz gewiss nicht; das beteuerten sie sich gegenseitig und anderen gegenüber immer wieder. Nein, es ging ausschließlich um die Spenden für eine gute Sache.
Diese so wichtige Angelegenheit also duldete auch keinen Aufschub und so war auch Mrs. Freyman, gerade jetzt, montags absolut unabkömmlich.
Sie fiel also aus.
Es kam bedauerlicherweise hinzu, dass Mary-Ann ausgerechnet montags zur betreffenden Zeit ihren Klavierunterricht hatte. Den durfte sie auch auf gar keinen Fall versäumen. Auf einem der nächsten großen Feste der Freymans, mit dem man die Fertigstellung eines bedeutenden Bauprojektes am Vernon Boulevard feiern würde, sollte sie eine erste Kostprobe ihres Könnens geben.
Und da mochte die Familie sich unter keinen Umständen mit ihr blamieren. Also musste sie fleißig lernen und üben.
Das große Talent der Mutter, die damit jederzeit eine große Karriere als Pianistin hätte machen können, war allen bekannt. Zu Mary-Anns Leidwesen hatte sie nur sehr spärlich davon abbekommen. Also musste sie die fehlende Begabung durch entsprechenden Eifer und Fleiß ersetzen.
Sie fiel also aus.
Blieb nur noch Rose.
Die durfte folglich zur Bibelstunde nur unter der Auflage, dass sie John mitnehmen könne. Damit war die Sache scheinbar von vornherein erledigt.
Dachten die Eltern.
Ihnen war die Teilnahme an diesen Stunden ohnehin eher suspekt. Es war sicher unmöglich, zu solchen Veranstaltungen kleine Jungs mitnehmen zu können. Darauf zählten sie.
Sie hatten sich getäuscht.
Es war möglich. Weil neben dem Haus des Pfarrers auch seine Haushälterin lebte, die an anderen Tagen neben ihren Aufgaben im Haushalt auch einen kleinen Kindergarten betreute. Eltern, Mütter oder Väter, die gerade eine Messe besuchten oder auch nur zum Beten kamen, konnten dort ihren Nachwuchs für die Zeit des Gottesdienstes oder des Gebetes in Obhut geben. Damit sie in ihrer Andacht ungestört seien.
Die gute Frau hatte sich auf Nachfrage bereit erklärt, während der montäglichen Bibelstunde von Vater O’Reilly auf John aufzupassen. Seine Zusage auf ein erkleckliches Entgelt für diese zusätzliche Aufgabe hatte sie wohl überzeugt.
Die gutmütige und duldsame Frau kannte wegen ihrer langjährigen Erfahrung im Umgang mit kleinen Kindern ausreichend Geschichten und Spiele, mit denen sie John die Wartezeit unterhaltsam verkürzen konnte.
Am ersten Abend konnte Vater O’Reilly vierzehn Teilnehmerinnen begrüßen. Mit so vielen hatte er gar nicht gerechnet. Da saßen sie nun, gespannt, erwartungsvoll - und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
Rose verhielt sich abwartend und wollte die erste Stunde erst einmal nur zuhören. Sie verhielt sich so unauffällig wie es ihr möglich war. Und so verlief die Unterrichtung exakt so, wie es Vater O’Reilly vorgesehen hatte. Er musterte die Mädchen der Reihe nach, lange, und jede einzeln, so als ob er bereits eine Vorauswahl treffen wolle. Die etwas älteren Mädchen begriffen schnell, welches Spiel hier gespielt werden sollte; die Reise nach Jerusalem war es sicher nicht.
Dass der Gottesmann in seiner Gerechtigkeit auch die weniger frommen Kinder in seiner Zuneigung keineswegs ausschließen wollte, das bewies er nachdrücklich durch die zärtlichen Berührungen, mit denen er ausnahmslos alle der Teilnehmerinnen bedachte.
Manchen der Mädchen war dieses Verhalten mehr als unangenehm. Einige erzählten nach dieser ersten Stunde auch ihren Eltern davon, wie der Herr Pfarrer das Jesuswort ‚Lasset die Kinder zu mir kommen‘ auszulegen pflegte.
Die Reaktionen waren typisch für Menschen, die keinen Ärger mit Schule oder Pfarrhaus haben wollten.
Am zweiten Montag waren sie nur noch zu fünft.
Die anderen hatten abgesagt, fast alle aus vorgeschobenen Zeitgründen. Klavierstunde, Geigenstunde, Flötenstunde, Gesangsstunde, Bastelstunde, Sportstunde – und was ihnen oder ihren Eltern sonst noch alles eingefallen war. Zu mehr als zu diesen Absagen hatten sie keinen Mut.
Dabei wäre es erforderlich gewesen, diesem Burschen unter allen Umständen sofort das Handwerk zu legen.
Aber man durfte sich ja nicht so einfach gegen den Sprengel wenden. Das ging gar nicht.
Was sollten denn die von einem denken! Was könnte das für Folgen für sie selber haben?
Und noch war ja auch gar nichts passiert. Man hatte nichts Konkretes in der Hand, nur Vermutungen.
Vater O’Reilly lobte derweil den Wissensdurst und vor allem die Beständigkeit der verbliebenen Schülerinnen.
Diese Eigenschaften seien eine der unabdingbaren Voraussetzungen ‚für den höheren Dienst am Schöpfer unseres Universums‘, wie er es gestelzt in Worte kleidete.
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