Je mehr sich seine körperlichen Funktionen beruhigen, desto eher gelingt es ihm auch, sachlich und nüchtern über seine Lage nachzudenken.
Er ist gefesselt und sitzt auf einem Stuhl, der vermutlich am Boden festgeschraubt ist. Zusätzlich ist er geknebelt und hat einen Stoffbeutel über dem Kopf. Das sind die wenigen Fakten, die er bislang sammeln konnte.
Was noch?
Er lauscht noch einmal angestrengt, kann aber mit Ausnahme der Laute, die er selbst verursacht, noch immer nichts hören.
»Mmmmmhhhh! Mmmhhh mmhhh mmmmmhhhhh?«
Wegen des Knebels fällt es ihm schwer, laute Geräusche zu erzeugen. Die Töne, die er von sich gibt, klingen sogar in seinen eigenen Ohren dumpf. Er horcht erneut, kann jedoch keinen Widerhall hören, der ihm etwas über die Größe des Raumes verrät, in dem er sich befindet. Entweder ist der Raum zu groß, oder seine Knebellaute sind zu leise, um die Wände zu erreichen und von ihnen zurückgeworfen zu werden.
Er blinzelt mehrmals, doch die Dunkelheit vor seinen Augen lichtet sich auch dadurch nicht.
»Mmmhhh!«
Entweder ist der Stoff über seinem Kopf lichtundurchlässig, woran er nicht wirklich glaubt, oder er ist in einem stockdunklen Raum gefangen. Er tippt auf Letzteres. Daraus folgert er zudem, dass er momentan allein ist, denn wenn jemand in seiner Nähe wäre, bräuchte diese Person Licht. Und außerdem müsste die Person Geräusche verursachen, selbst wenn sie sich möglichst still verhalten würde. Trotz des Stoffes über seinem Kopf, der ihn Umgebungsgeräusche nur gedämpft wahrnehmen lässt, müsste er etwas hören können.
Erneut spürt er, wie die Furcht nach seinem Herzen greift und es rascher schlagen lässt. Es ist nicht nur die Angst vor der Dunkelheit, die er, wie ihm nun klar wird, schon immer hatte, sondern auch die Angst vor dem, was ihm hier widerfährt. Er ist ein Gefangener und den Launen seiner Kidnapper ausgeliefert. Warum hat man ihn gefesselt und geknebelt? Und was hat man noch mit ihm vor?
Um sich abzulenken und nicht erneut in im wahrsten Sinne des Wortes blinde Panik zu verfallen, führt er eine kurze Bestandsaufnahme seines eigenen Zustands durch. Abgesehen davon, dass er gefesselt und geknebelt ist und dadurch in eine unbequeme Haltung auf dem harten Holzstuhl gezwungen wird, fühlt er sich körperlich ganz gut. Der einzige Teil seines Körpers, der richtig wehtut, ist sein Kopf. Ansonsten scheint er jedoch unverletzt zu sein.
Er schlussfolgert daraus, dass er vermutlich einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, der ihn das Bewusstsein verlieren ließ, ehe er an diesem Ort wieder zu sich kam.
Aber wie konnte das geschehen?
Er versucht sich daran zu erinnern, was passiert ist, bevor er erwachte, doch als seine Gedanken an den Ort in seinem Bewusstsein vordringen, wo seine Erinnerungen verwahrt werden, stoßen sie nur auf gespenstische Leere. Er fühlt sich wie ein Astronaut, der im luftleeren Raum des Weltalls schwebt, oder wie jemand, der in sein Zuhause zurückkehrt und feststellen muss, dass in seiner Abwesenheit die ganze Wohnung leergeräumt wurde.
Seine tastenden Gedanken suchen in allen Richtungen, stoßen jedoch nirgends auf Widerstand. Alle Erinnerungen, so scheint es, sind so spurlos verschwunden wie die Daten auf einer Festplatte, die gelöscht und neu formatiert wurde. Er überlegt fieberhaft, kann sich aber nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern. Aber wie kann das sein? Wie kann man etwas so Elementares wie den eigenen Namen vergessen?
»Hhmm!«
Das Stöhnen, das er in seiner Frustration ausstößt, klingt wegen des Knebels noch verzweifelter. Er schüttelt den Kopf, weil er nicht glauben kann, dass er tatsächlich alles vergessen haben soll. Die Bewegung löst intensive, schmerzhafte Stiche an der rechten Seite seines Kopfes aus. Vermutlich hat ihn dort der Schlag erwischt.
Als habe dieser Gedanke ihn ausgelöst, erhascht er plötzlich einen Erinnerungsfetzen, der wie ein einsamer Stern im grenzenlosen Weltall vor ihm schwebt. Seine Gedanken greifen danach, bevor er sich ebenfalls in Nichts auflösen kann.
Es handelt sich tatsächlich um eine isolierte Erinnerung, die wie ein einzelnes Puzzlestück Teil eines größeren Bildes ist. Doch als er sie betrachtet, entsinnt er sich plötzlich auch einer ganzen Reihe weiterer Dinge, die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
Nachdem er das Parkticket aus dem Schlitz gezogen hatte, öffnete sich die Schranke vor der Motorhaube des Audi. Er warf das Ticket achtlos auf den Beifahrersitz und fuhr ins Parkhaus.
Er war pünktlich, denn es war genau zwei Minuten vor 22 Uhr. Ab 22 Uhr war es nicht mehr möglich, ins Parkhaus zu fahren. Dann konnte man nur noch hinausfahren. Er fuhr langsam, um sich zu orientieren, da er zuvor noch nie hier gewesen war. Sein Ziel lag auf Parkebene 3, und momentan befand er sich auf Ebene 1. Also musste er noch weiter nach oben.
Er folgte den weißen Pfeilen auf der Fahrbahn und kam an zahlreichen leeren Parkplätzen vorbei. Am Ende der Geraden kam eine halbkreisförmige Auffahrt zum nächsthöheren Stockwerk. Er fuhr hinauf und musste erst wieder durch die ganze Parkebene fahren, ehe er noch weiter nach oben fahren konnte.
Parkebene 3 stand in weißer Schrift auf dem blauen Schild. Hier war er richtig. Jetzt musste er nur noch das Treppenhaus am Ausgang Ost finden und dort seinen Wagen parken. Er folgte erneut den Pfeilen und sah schließlich eine rot gestrichene Stahltür mit einem Schild, auf dem Ausgang Ost stand. Da alle Stellplätze auf dieser Ebene leer waren, hatte er freie Auswahl. Er wählte einen Parkplatz, der etwa zehn Meter von der Tür zum Treppenhaus entfernt war, und stellte den Audi dort ab. Dann löschte er die Scheinwerfer und stieg aus.
Nachdem er den Wagen verriegelt hatte, verharrte er ein paar Sekunden und horchte auf Geräusche. Doch alles, was er hören konnte, war das leise Rauschen vorbeifahrender Autos auf der Straße vor dem Parkhaus. Hier drinnen war es hingegen geradezu gespenstisch still.
Er seufzte leise, ehe er sich in Bewegung setzte und die Treppenhaustür ansteuerte. Seine Schritte auf dem schmutzig grauen Beton hörten sich in der leeren Parkebene unnatürlich laut an und hallten von den kahlen Wänden wider. Als er die Tür erreichte, griff er mit der rechten Hand unter seine Jacke und umfasste den Griff des Jagdmessers, das er in einer Lederscheide am Gürtel trug. Sein Herz schlug schmerzhaft schnell in seiner Brust, und sein Mund war ganz trocken.
Doch er durfte weder umkehren noch zögern, sondern musste durch diese Tür. Also legte er die freie Hand auf den kühlen Stahl des Türblatts und stieß sie auf. Er schlüpfte durch die Öffnung und versuchte, sich in aller Eile zu orientieren und einen Überblick zu verschaffen. Vor ihm führten Stufen nach oben und nach unten. Links befanden sich die Türen eines Fahrstuhls, die geschlossen waren.
In diesem Augenblick spürte er, dass er nicht allein war und jemand hinter ihm stand. Er wollte herumwirbeln und dabei das Messer ziehen, doch noch ehe er zu einer dieser Bewegungen ansetzen konnte, hörte er ein Pfeifen und spürte er einen Luftzug. Dann prallte etwas so schmerzhaft gegen seinen Kopf, dass er unwillkürlich aufstöhnte. Seine Knie wurden weich und gaben unter ihm nach. Seine letzte Wahrnehmung war der schmutzige Betonboden, der in rasender Geschwindigkeit auf ihn zukam. Dann wurde alles pechschwarz.
Er stöhnt, als spüre er den Schlag, der ihn bewusstlos werden ließ, noch einmal.
Nun erinnert er sich wenigstens wieder, was vor seinem Erwachen geschehen ist und warum sein Kopf schmerzt. Alles andere ist jedoch noch immer weg und damit seinem Zugriff entzogen. So weiß er beispielsweise noch immer nicht, warum er überhaupt in dem Parkhaus war und ein Messer bei sich hatte. Auch sein Name und alle anderen persönlichen Daten sind ihm noch immer ein Rätsel.
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