Der Pappenheimer ließ nicht locker, das Telefon läutete ein zweites Mal. Es nervte. Nein, ich täuschte mich, diesmal war es sogar der Bleifrei persönlich, der es wohl nicht gewohnt war, dass ich nicht zur Arbeit erschienen war. Der Typ konnte nicht ahnen, wie gewaltig mir das Telefonläuten auf die Eier ging. Meine Gedanken waren ganz woanders. Er würde sich wohl noch gedulden müssen, dieser blöde Sack, bis ich Lust hätte, ihm mein nettes Verschen aufzusagen. Von mir aus konnte er sich seine ungepflegten Wurstfinger wundtelefonieren. Die Erinnerungen an die Mädchengeschichten und meine alkoholhaltigen Erinnerungsbeschleuniger machten mich zunehmend entspannter.
Fix hatte es eingefädelt. Es war an ihrem 17. Geburtstag. Er hat mich mit zu Angela geschleppt, sie hatte sturmfreie Bude und gab eine Party. Sie nannte sich jetzt nicht mehr Angela , sondern nannte sich Angelina-Julia und stand nur noch auf den Kinostreifen „Pretty Woman“ mit Julia Roberts. Ihr erklärtes Ziel war eine Karriere als Filmschauspielerin und ihr Verhalten ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst damit meinte. Die Party hatte also viel mehr zu bieten, als harmlose Soft-Drinks, Flaschendrehen und knutschen. Es war Nebensache, dass ein paar andere aus unserer Schule da waren, denn die eindeutige Hauptrolle an diesem Abend hatte Angela . Sie war die Überraschung des Abends mit einem profihaften Strip in den roten Strapsen ihrer Mutter, der sich gewaschen hatte. Sie hatte kein Problem damit, dass sie danach nur noch Strapsi genannt wurde.
Irgendwann an diesem besagten Abend saß ich neben ihr auf der bequemen Couch und beinahe wäre es mein erstes Mal gewesen … aber das Karma meinte es nicht gut mit dem kleinen Teufel in meiner engen Hose. Ich hätte meine Hände nur dazu benützen müssen, an ihr herum zu fummeln, wenn ich nicht so schüchtern gewesen wäre. Als Trostpflaster haben wir uns am nächsten Abend ins Kino verabredet. Dumm und unerfahren konnte oder wollte ich allerdings nicht wissen, dass nicht nur ich ein Auge auf dieses Biest geworfen hatte.
Meine auf den Kopf gestellte Bude sah echt krass aus, mein optisches Äußeres vermutlich auch nicht viel besser. Sah so ein frischgebackener Millionär aus? Ungepflegt, ungewaschen, seit mehr als vierundzwanzig Stunden in den gleichen Klamotten, der seit einer erfolgreichen Suchaktion nach der verdammten Lottoquittung nicht in der Lage war, auch nur den kleinen Finger zu rühren? Die Szene muss ein beschämendes Bild abgegeben haben, es kümmerte mich nicht. Vor mir sah ich die Vision eines Zukunfts-Lebens ohne Regeln, ohne Uhrzeit, ohne Verpflichtungen. Ab jetzt würde ich Essen gehen, wann ich Hunger hatte, Pennen, wenn ich müde war, Ausgehen, wenn ich Lust dazu hatte und die Puppen tanzen lassen, bis der Arzt kommt.
Das war das Leben eines Königs. Meine euphorisch berauschte Stimmung machte es mir unsagbar leicht, in die Rolle eines prunkvollen Königs zu schlüpfen, der als Portrait mit all seinen Reichtümern und Goldschätzen im Mittelpunkt eines Ölbildes eingerahmt war und von den herumstehenden Betrachtern aus meinem alten Leben bewundert wurde. Darauf musste ich anstoßen.
Welch ein praktischer Zufall, dass in dem ganzen Gerümpel zwischen Sportsocken, Luftmatratze und Klopapier noch eine Flasche unangetasteten Cognacs aufgetaucht war, um meiner Inspiration freien Lauf zu lassen. Das einzige Haar in dieser Königssuppe war lediglich der ganze Plunder, der sich Wohnungseinrichtung nannte. Hätte ich eine Alexa gehabt, dann hätte ich an dieser Stelle gerufen „Alexa, räum die Bude auf!“ Aber ein stilgerechtes Königreich, nein, aus dieser schäbigen abgewohnten Bruchbude konnte niemals ein Palast werden.
„Alexa, lass es, ich ziehe bald um!“
Apropos Alexa, eine echte lebendige Alexa, mit Titten und alles was dazugehört, klar, als König konnte ich mir so viele Alexas leisten wie ich wollte und wie ich das wollte.
Mein erste lebendige Alexa war die Bettina , zwei Sommer nach Strapsi`s Strip. Fix hatte mich gefragt, ob ich mit dem Sportwagen in meiner Hose schon mal eine Spritztour nach Bumshausen gemacht habe. Weil ich nur idiotischblöd reagierte, bohrte er nach.
„Ob du schon mal gevögelt hast?“
Ich vermute, dass er meine Antwort kannte und dann sofort mit dieser Bettina kam.
„Meine Fresse, ich kenne eine, ein richtiges Boxenluder. Da kannst du deine Stoßstange versenken bis dir das Hören und Sehen vergeht, hast du Geld dabei?“
Am selben Abend waren wir bei ihr, Betty Nymphenbacher. Zuerst hat Fix sie gebumst, danach durfte ich für Liebe zum Dumping-Preis in der feuchtwarmen Garage zwischen ihren Füssen einparken. Mein Geldbeutel und mein Samenbehälter waren leer. Was soll’s, ganz ehrlich, es war das erste Mal. Es hätte schlimmer sein können. Und wer war es, der sich einen Tripper geholt hat? Keine Frage, der ohne Verhüterli und das war natürlich ich, Shit happens.
Was war das? Verdammt, ausgerechnet in der schönsten Phase meiner Königsgedanken läutete jemand an der Türe. Wer zum Teufel konnte das sein? Es gab niemanden, den ich in meine Underdog-Behausung hereinlassen würde, außer Fix . Es läutete noch einmal. Ich brauchte mir nicht den Kopf zerbrechen, gleichzeitig mit dem Läuten ertönte die unverwechselbare hysterische Stimme von Paulinchen.
„Hey Stephan , bist du da? Mach auf! Stephan , hallo!“
Da hatte der Blödmann von Bleifrei tatsächlich die Kleine losgeschickt um mich aus den Federn zu schmeißen.
Ich kann es mir nicht erklären, warum ich das alles so Wort für Wort in meiner Erinnerung gespeichert habe wie die Blackbox eines Flugzeuges. Aber der Kilometerzähler in meinem Hirn lässt sich einfach nicht ausschalten. Er läuft und läuft, Kilometer für Kilometer, Wort für Wort.
Paulichen antworten oder hereinlassen? Den Bleifrei anrufen und meinen Spruch aufsagen? Nein, überhaupt nicht, nicht in diesem Moment und schon gar nicht an einem Montag. Ich habe Montage noch nie leiden können. Vielleicht am Dienstag. Ja, das war viel ist besser. Der Dienstag sollte ein guter Tag werden, Lottoquittung vorlegen, Geld abholen, Auto kaufen, in den Flieger steigen, Urlaub machen und in der Hängematte in aller karibischen Ruhe nachdenken, was ich mit dem Rest meiner Million alles machen wollte. Klar, das musste der beste Tag in meinem kompletten Leben werden.
Aber im Augenblick wollte ich meine ungestörte Ruhe. Mir war einzig und allein daran gelegen gewesen, zusammen mit einem guten alten flüssigen Freund ausgiebig den alten Erinnerungen nachzuhängen, geschissen darauf, was diese neunmalklugen Fachidioten in der Suchtklinik versucht hatten, mir einzutrichtern. Das Klopfen, Rufen und Läuten von Paulinchen entfernte sich in meiner Wahrnehmung, als der letzte Schluck der leicht nach abgestandenem Korkenbeigeschmack mundende Achtunddreißig-Prozen-ter meine Kehle hinuntergurgelte.
Was danach kam, konnte ich nur vermuten. Das Zeitloch war groß und lange genug. Hatte Paulinchen den Bleifrei geholt, dieser die Tür eingetreten und mich bewusstlos zusammengeschlagen? Oder bin ich über mein unaufgeräumtes Gerümpel gefallen und im Suff mit dem Schädel aufgeschlagen und ohnmächtig geworden? Mein Kopf brummte wie eine geprügelte Boxerbirne und sämtliche Körperteile schmerzten. Oder war ich einfach eingeschlafen und habe die fehlenden Schlafstunden von der Nacht zuvor nachgeholt? Nein, dann wäre ich nicht klitschnass mit meinen ganzen Klamotten im eiskalt gewordenen Badewasser wach geworden. Es konnte nur einen Grund gehabt haben. So wie es aussah, hatte ich mich entschieden, mit meinem flüssigen Freund ein Bad zu nehmen und den ganzen Verlierer-Fluch innerlich und äußerlich abzuschrubbeln. Wahrscheinlich war ich zu müde gewesen, um aus den Klamotten zu kommen, vielleicht auch zu betrunken. Und dabei ist scheinbar mein Licht ausgegangen. Ja, so wird es sich zugetragen haben.
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