„Ab hier müssen wir einzeln nach oben.“
„Einzeln nach oben? Wie stellst du dir das vor?“ Ich sah ausschließlich Grautöne in sämtlichen Schattierungen des Bergmassivs.
„Ich klettere voraus und sehe nach, ob die Höhle weiterhin unbewohnt ist, dann hole …“
„Klettern?“ Entgeistert sah ich ihn an.
„Du brauchst mir nicht alles nachzusprechen“, fuhr er mich gereizt an. „Wenn die Höhle gesichert ist, komme ich wieder herunter, nehme dir dein Gepäck ab, dann wird es für dich leichter.“
Ich wollte nachhaken, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen sei, verkniff es mir jedoch. Wenn er in dieser Stimmung war, machte es keinen Sinn, ihn zu bedrängen. Also harrte ich aus, folgte seiner Silhouette mit müden Augen, bis er mit der Felsformation verschmolz und sich schließlich in Luft aufzulösen schien. Nur vereinzelt herabrollende Kiesel zeugten von seinem weiteren Aufstieg, der ansonsten völlig lautlos vonstattenging. Ich hoffte, dass er die Höhle bald fand und diese unbewohnt war. Dabei – wer sollte sich sonst in diese Abgeschiedenheit hineinwagen?
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende geführt, da erhielt ich meine Antwort: Bernsteinfarbene Augen nahmen mich ins Visier, deren raubtierhafte Kälte mir die Härchen auf den Unterarmen aufstellten. Das beigebraune Fell einer Raubkatze, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, mit unregelmäßigen Schattierungen, die ihr eine hervorragende Tarnung verliehen. Das blutverschmierte Maul leicht geöffnet, traten säbelgleiche Fangzähne zum Vorschein.
Eine Schrecksekunde fürchtete ich, Skyler könnte ihr beim Inspizieren der Höhle zum Opfer gefallen sein.
Die Raubkatze spannte die Muskeln und setzte zum Sprung an. Ich wusste es in dem Augenblick, da ihr Kopf sich minimal nach unten neigte. Reflexartig sprang ich zur Seite und richtete meinen Zeigefinger wie eine Waffe auf ihre Flanke. Ich ließ mein inneres Feuer entströmen, als gelte es eine feurige Schneise zu ziehen. Ein grausig heller Ton zerriss die Luft, gefolgt von Fauchen und Jaulen in einer Frequenz, die meine Ohren zum Klingeln brachte. Nachdem der massige Körper um Haaresbreite neben mir aufprallte, stand ich wie paralysiert da. Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, war eiskalt, eine Kälte, die mir geradewegs ins Herz zu strahlen drohte. Meine Reaktionen wurden fahrig. Langsam rieb ich mir den eiskalten Arm, um die Blutzirkulation in Gang zu setzen. Umständlich schulterte ich den Bogen samt Pfeilköcher. Ich ließ das restliche Gepäck einfach zurück und begab mich in die Richtung an den Aufstieg, in die ich Skyler verschwinden glaubte.
Es kostete ungeheure Kraft, mich fortzubewegen. Auf der Suche nach Halt glitt ich mehrmals auf losen Steinen aus. Obwohl ein eisiger Wind an mir zerrte, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Hoffnungslosigkeit griff mit unbarmherzigen Klauen nach mir. Wohin mochte Skyler verschwunden sein?
Meine Hände fassten ins Leere. Ein, zwei Meter fiel ich in die Tiefe, riss mir Fingernägel ab in dem verzweifelten Bemühen, Halt an dieser verdammten, scharfkantigen Wand zu finden. Der Schmerz brachte mich am Rande einer Ohnmacht. Ich blinzelte die Tränen weg, umschloss zitternd die geschundenen Finger mit den Lippen und konzentrierte mich auf die Heilung.
Bildfetzen blitzten plötzlich in meinem Kopf auf: Skyler wie er leblos mit verrenkten Gliedern in einer Felsspalte klemmte, dann verschwand die Vision wieder. Was war das? Spielte mir mein Verstand einen Streich?
Panisch begann ich nach Skyler zu rufen, ungeachtet dessen, ob sich Feinde in der Nähe aufhielten, sei es Mensch oder Tier. Meine eigene Stimme hallte als Echo von den Bergen wider, als wolle sie mich verspotten.
Da, ein leiser Ruf oder bildete ich mir das ein? Aus welcher Richtung? Ich lauschte angestrengt, wozu ich die Hand wölbte und hinters Ohr hielt. Rief, und diesmal erhielt ich eine Antwort.
„Skyler! Wo bist du? Sprich weiter, sonst finde ich dich ni …“
In letzter Sekunde stoppte ich. Nur knapp einen Schritt vor mir sah ich einen Spalt, halb verborgen hinter einem Felsplateau. Vorsichtig sah ich hinab.
„Ich bin hier unten, verdammt“, erklang ein Fluch aus der Tiefe, gefolgt von einem Stöhnen.
„Kannst du dich bewegen?“
„Wäre … wäre ich dann … hier unten?“, ätzte er.
„Was muss ich tun?“, fragte ich, meine eigene Erschöpfung vergessend.
Wieder ein Stöhnen, dann lange Zeit nichts. Ob er ohnmächtig geworden war? Wie tief mochte er in den Felseinschnitt gerutscht sein? Welcher Art waren seine Verletzungen?
„Avery“, drang Skylers Stimme erneut zu mir.
„Ja?“ Ich rutschte sofort näher an die Kluft heran und löste mit meiner Aktion ein paar lose Steinchen.
„Willst du mich umbringen?“, keuchte er.
„Entschuldigung.“
Im Kopf ging ich alle Optionen durch, die mir zur Verfügung standen. Doch was nutzten mir magische Fähigkeiten, wenn ich sie in banalen Lebenslagen wie dieser nicht anzuwenden wusste?
„Avery?“
„Ja, ich bin hier!“
„Leg dich flach hin!“
Diesmal befolgte ich seine Aufforderung vorsichtiger.
„Reich mir eine Hand nach unten soweit wie es geht.“
Tastend griff ich in die Tiefe.
„Weiter! Aber möglichst, ohne mir zu folgen.“
Typisch Skyler. Selbst in dieser Lage verließ ihn seine angeborene Arroganz nicht. Stückchen für Stückchen schob ich mich voran, bis sich unsere Fingerspitzen berührten.
„Noch ein wenig!“
Ich lag bereits kopfüber bis knapp zu den Hüften in der Kluft, konnte seinen stoßweisen Atem hören, bis sich unsere Finger ineinander verkrallten.
„Gut. Jetzt denk an etwas Schönes, an Heilung.“
Etwas Schönes …
Erinnerungen flossen durch meine Gehirnwindungen, durch meinen gesamten Körper, wie pulsierende Energie. Bilder von Skyler, wie ich ihm in den Baumkronen Greenerdoors begegnete, er mich vor einer Kreuzbandnatter rettete und zum ersten Mal Montai nannte, kleines Äffchen. Der erste Kuss in seinem Baumhaus, unsere erste Nacht, in der wir uns fast körperlich vereint hätten, bis Amarotts Blutstein …
„Verflucht noch mal! Möchte wissen, an was du gerade eben gedacht hast!“, fuhr er mich an.
Meine Hand schnellte zurück, als er aus der Tiefe emporstieg. Fast besinnungslos vor Erschöpfung zog ich den Arm zu mir heran und rollte mich von dem Spalt fort. Ich war müde, so unendlich müde, wollte nur noch schlafen.
„Avery“, hauchte mir eine vertraute Stimme ins Ohr und ich schlug lahm die Augen auf.
„Da bist du ja wieder.“
Bei Skylers Lächeln durchströmte mich augenblicklich Wärme, doch fühlten sich meine Glieder an, als hätte jemand mit Gewalt an ihnen gezerrt.
„Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.“
Er hockte sich nieder und reichte mir den Wasserschlauch.
„Trink! Und dann müssen wir weiter.“
„Weiter wohin?“, fragte ich matt.
Ich trank in gierigen Zügen. Meine Kehle fühlte sich so rau an, als hätte ich Sand geschluckt. Langsam kam die Erinnerung, und mit ihr die Erkenntnis, dass er die Höhle meinte.
„Fühlst du dich kräftig genug für den Aufstieg?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Wo ist unser Gepäck?“
„Oben.“
„Du hast mich hier allein …?“
„Ich konnte schlecht dich und das Gepäck tragen.“ Kurz trat ein schmerzhafter Ausdruck in seine Augen, dann entspannte sich seine Miene wieder. „Danke.“
„Wofür?“
„Für deine Heilung.“
Ich wollte etwas erwidern, doch er packte bereits meinen Unterarm zum Aufbruch. Unwirsch wand ich mich aus seinem Griff.
„Geh schon vor, ich folge dir“, wie ich es immer tue, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Bist du sicher?“
„Habe ich denn eine Wahl?“
Sein Unterkiefer arbeitete, dann kletterte er mir voraus. Obwohl nur von spärlichem Licht umgeben, stieg er sicheren Schrittes hinauf.
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