Nach und nach entfernten sich die Fahrzeuge vom Tatort. Zurück blieben nur noch wenige Beamte, die den Tatort mit Absperrband absicherten.
Esther begleitete Steiner nach Hause. Sie saß auf dem Beifahrersitz, ein Polizeibeamter vom Polizeibezirk Saarlouis hatte das Steuer übernommen. Ständig fiel ihr Blick in den Rückspiegel, um Steiner zu beobachten. Sein Hund lag auf seinem Schoß, sein Gesicht wirkte entspannt, während er das braun-weiß gefleckte Fell streichelte.
Der Fahrer des Wagens folgte Steiners Wegbeschreibung, bis er ein gusseisernes Tor passierte und an einem gut gepflegten Rasen vorbei auf ein Gebäude im Stil des Klassizismus zurollte. Die geraden Formen bestachen durch die hohen Sprossenfenster, dekoriert von dunklen Klappläden auf der hellen Fassade. Vollendet wurde das Gesamtbild durch das Mansardendach aus schwarzem Schiefer. Ein kleines Haus in neuzeitlicher Bauweise und ein flaches Gebäude flankierten das Herrenhaus, eingeschlossen von üppigen bunten Blättern wilden Weins. In der Mitte des Hofes prangten ein moderner Pavillon und ein rustikales Brunnenhaus. Dunkelrote Rosen, weiße Margeriten und gelbe Dahlien stachen von dem saftigen grünen Rasen ab, eine kleine Oase zwischen Sandsteinwänden, wo der Berg für dieses Fleckchen Erde abgetragen worden war. Der Anblick verschlug ihnen den Atem.
Als Steiner die erstaunten Gesichter bemerkte, erklärte er: »Durch meinen Arbeitsvertrag mit Monsieur Villeroy habe ich hier nur Wohnrecht. Das Haus gehört mir nicht.«
»Aber allein dort zu wohnen muss doch schön sein«, überlegte Esther laut.
»Das dachte ich auch, als ich hierher zog – ein Vorzug meiner neuen Arbeit. Ein ruhiges Leben, fernab von allem.«
»Wovor flüchten Sie?«
Mit dieser Frage brachte die Kommissarin Steiner aus dem Konzept.
»Ich sollte Kleider zum Wechseln holen«, lenkte er ab.
Sie stiegen aus. Wieder ließ Esther ihren Blick über das Haus wandern. Doch zu ihrem Erstaunen steuerte Steiner nicht das Schmuckstück des Hofes an, sondern die zum Wohnhaus umgebaute Remise. Zwischen den Blättern des wilden Weins war die Eingangstür nur zu vermuten.
Sie betraten eine große Diele mit Parkettboden. Eine Glastür trennte den Eingangsbereich vom Wohnbereich ab. Von allen Seiten fiel Tageslicht herein. Steiner ging voraus. Aus einem der Räume strömte Kaffeeduft, dem Esther Weis am liebsten gefolgt wäre. Steiner ging mit Esther Weis durch ein gemütliches Kaminzimmer und steuerte einen Raum an, der eindeutig sein Schlafzimmer war. Dort zog er Kleidungsstücke aus dem Schrank, eilte ins Nachbarzimmer, wo er Vorräte für seinen Hund einpackte. Moritz verhielt sich still und gehorsam. Esther Weis entwickelte in der kurzen Zeit eine große Freude an dem Tier und streichelte bei jeder Gelegenheit über sein Fell, was Moritz sich gern gefallen ließ.
Im Flur der Kriminalpolizeiinspektion stellten sie fest, wie still es dort war.
»Wo sind die Kollegen?«, fragte Esther ihren Vorgesetzen.
»Anke ist krank«, kam es mürrisch zur Antwort.
»Was hat sie denn?«
»Windpocken!« Schnurs Tonfall ließ keinen Zweifel an seinem Frust. »Wenn man ein Kind hat, das in den Kindergarten geht, kommt so etwas leider vor. Und wir haben das Nachsehen.«
»Da fehlen aber noch ein paar«, erinnerte Esther Weis. »Ausgerechnet an dem Tag, an dem sich die neue Staatsanwältin vorstellen will, ist keiner da.«
»Erik Tenes ist auf dem Weg hierher. Er wird zusammen mit ein paar Beamten der Polizeidienststelle Saarlouis morgen früh die Suche auf dem Limberg fortsetzen.«
»Nach was suchen wir denn?«, fragte Esther.
»Nach einem Projektil oder nach einem angeschossenen Wild – was weiß ich, was sie dort finden werden«, brummte Schnur. »Nach Steiners Angaben ist dort ein Schuss mit Treffer gefallen – dem müssen wir nachgehen …«
Steiner stand mit Moritz an der Leine im Flur und wartete geduldig.
»Wer übernimmt Harald Steiner?«, stellte Esther die Frage, die sie noch viel mehr beschäftigte.
»Er muss seine Kleider für den Erkennungsdienst abgeben, was mir ungelegen kommt«, gab Schnur mürrisch zu verstehen. »Du weißt, dass ich einen Termin mit der neuen Staatsanwältin habe. So glänze ich schon bei unserer ersten Begegnung mit Verspätung. Na toll!«
»Ich würde dir Steiner abnehmen, aber ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre.«
Steiner hatte das Gespräch mitgehört. Er trat auf Esther zu und meinte: »Warum sollte ich nicht damit einverstanden sein, mich vor Ihnen zu entkleiden? Sie sind mir bedeutend lieber als Jürgen Schnur, der alte Diener.«
Er folgte Esther in einen kahlen und unpersönlichen Raum.
»Hier?«
Esther zuckte mit den Schultern. Ihre Verlegenheit war größer als Steiners, was sie selbst überraschte.
»Sie wissen, dass ich Sie im Auge behalten muss, für den Fall …«
»Das ist mir sogar recht«, kam es zurück. »Ich will schließlich nicht, dass Sie nachher für einen Fehler haftbar gemacht werden.«
»Danke. Sie machen es mir leicht.«
Er schaute sie lange an. Sie hielt seinem Blick stand. Seine dunkelbraunen Augen wirkten klug und undurchdringlich. Sein Kopf glänzte kahl, bis auf wenige graue Stoppeln, die einen Kranz am Hinterkopf bildeten. Seine Gesichtszüge waren markant, seine Falten tief, was draufgängerisch an ihm wirkte. Nicht das kleinste Anzeichen von Unsicherheit erkannte sie an ihm, während er begann, sich seiner Kleider zu entledigen.
Nach und nach legte er die Stücke auf den Tisch, bis er völlig nackt vor ihr stand.
Sein Oberkörper war muskulös, seine Schultern breit. Er hatte einen Waschbrettbauch, wie Esther es nur von Reklameschildern kannte, und kräftige Oberschenkel. Obwohl sie wusste, dass es unhöflich war, ihn anzustarren, gelang es ihr nicht, ihren Blick abzuwenden.
»Darf ich mich wieder anziehen?«
Mit dieser Frage brachte er sie aus dem Konzept. Verwirrt nickte sie, stammelte ein »Natürlich« und merkte, wie sie augenblicklich rot im Gesicht wurde. Steiner dagegen war die Selbstsicherheit in Person.
Innerlich ärgerte sich Esther über ihr Verhalten. Hastig packte sie die Kleidungsstücke in eine Tüte und wollte das Zimmer verlassen, als ihr eine Frage einfiel: »Wer ist Bernd Schumacher?«
Anstatt zu antworteten, stellte ihr Steiner eine Gegenfrage: »Seit wann arbeiten Sie hier im Polizeidienst?«
»Seit sieben Jahren.«
»Dann wissen Sie natürlich nicht, wer Bernd Schumacher ist«, folgerte Steiner. Er zögerte eine Weile, bis er endlich weiter sprach: »Ich war bis vor fünfzehn Jahren Einsatzleiter des Sondereinsatzkommandos des Saarlandes. Mein letzter Einsatz galt Bernd Schumacher. Der Einsatz scheiterte, weshalb ich meinen Rücktritt erklärte.«
An diesen Worten erkannte Esther, dass der Fall interessant zu werden versprach. Steiner tat nichts, um den Verdacht von sich abzulenken, dabei drückten seine eigenen Worte schon ein Motiv aus, Bernd Schumacher zu töten.
Leise schloss sie die Tür hinter sich.
Ein paar Türen weiter breitete sich Aufregung im Büro aus. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: »Gleich kommt die neue Staatsanwältin.«
Erwartungsvoll lauschten sie den Schritten auf dem Flur, die immer näher kamen.
Dieter Forseti zupfte nervös an seiner Krawatte. Nach seinem Sprung vom Hauptkommissar zum Ersten Hauptkommissar war seine Karriere nicht mehr zu stoppen. Kurt Wollnys vorzeitiger Abschied in den Ruhestand hatte ihn unverhofft schnell zum Kriminalrat befördert. Hier stand er nun vor seinem ersten offiziellen Auftreten als Amtsleiter.
Die Tür ging auf.
Vor ihnen stand eine große, schlanke Frau mit roten Haaren, die in wilden Locken ihr schmales Gesicht umrahmten. Sie trug einen grünen, figurbetonten Hosenanzug, dazu Goldschmuck an Hals und Ohren. Überrascht und belustigt zugleich blickte sie in die Runde, bevor sie mit einer angenehm tiefen Stimme sprach: »Ein Begrüßungskomitee hatte ich nicht erwartet.«
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