Der Weg führte steil bergauf. Trotz Dunkelheit erkannte Steiner, dass sie sich zielstrebig auf die höchste Stelle des Limbergs zubewegten. Sein Hund war trainierter als er selbst, denn Steiner begann laut zu schnaufen.
Lange dauerte es, bis Moritz endlich eine Fährte aufnahm. Die Morgendämmerung brach schon herein, der Nebel blieb hartnäckig. Moritz’ Aufregung steigerte sich, er beschleunigte sein Tempo. Steiner hatte immer größere Mühe, ihm zu folgen. Aber von der Leine lassen durfte er seinen Hund noch nicht, weil er ihn sonst aus den Augen verlor. Lange liefen sie, Steiners Luft wurde immer knapper, bis Moritz stehenblieb und sein Herrchen anschaute. Das war der Hinweis, dass er abgeschnallt werden wollte. Wie ein Pfeil schoss der braun-weiße Hund davon. Zurück blieben der Nebel und das Geräusch, das Moritz hinterließ, während er durch das Gestrüpp hechtete. Dann ertönte sein tiefes, grollendes Bellen, der Standlaut. Damit zeigte er an, dass er das Wild gefunden hatte. Von nun an bestand Steiners Aufgabe darin, dem Bellen seines Hundes zu folgen. Mühelos gelang es ihm, das Wundbett des verletzten Tieres auszumachen. Das Bild, das der angeschossene Bock ihm bot, war erschreckend. Auf dem Rücken klaffte eine große Wunde. Sein Rückgrat war verletzt worden, weshalb er sich nur noch auf den Vorderläufen fortbewegen konnte. Auf dem Kopf trug er noch sein Gehörn, fast schwarz, mit starker Perlung, hohen Kranzrosen, und messerscharfen Spitzen. Es war ein drei- bis vierjähriger Bock, also ein starkes Tier, das ein Waidmann niemals zum Abschuss freigegeben hätte, da seine Merkmale repräsentabel zum Weitervererben waren. Hinzu kam die noch andauernde Schonzeit. Dieser Bock war auf keinen Fall mit einer Ricke zu verwechseln, da er seine starke Gehörnmasse noch nicht abgelegt hatte. Das Abschlachten durch Wilderer wuchs zu Steiners größter Sorge heran, einer Herausforderung, die nichts mit seiner ursprünglichen Vorstellung einer Tätigkeit als Förster gemein hatte. Zum Jahresende sollte eine groß angelegte Treibjagd mit Gästen aus ganz Deutschland und Frankreich organisiert werden – der Höhepunkt des Jahres – und Steiner befürchtete bis dahin weitere brutale Wilderei.
Mit zitternden Flanken und weit aufgerissenen Augen schaute der angeschossene Bock ihn an, als wolle er ihn anflehen, von seinem Leid erlöst zu werden. Gewissenhaft setzte Steiner seinen Revolver zum Fangschuss auf den Träger an und drückte ab. In derselben Sekunde war das Tier verendet.
Inzwischen war es fast taghell geworden. Der Nebel lichtete sich, blauer Himmel lugte zwischen den weißen Schwaden hindurch. Es kündigte sich ein sonniger Tag an. Das war das Einzige, was Steiner in diesem Augenblick den nötigen Auftrieb gab, den langen Rückweg anzutreten. Einen erlegten Bock während der Schonzeit in der Wildkammer abzulegen, schadete seinem Ruf. Bei der Verbreitung von Gerüchten spielten die genauen Umstände keine Rolle. Sein Arbeitgeber hatte auf seine Fähigkeiten vertraut, obwohl er als Förster keinerlei Referenzen hatte vorweisen können. Nun gelang es ihm nicht, seinen Aufgaben gerecht zu werden.
Leise knirschten die Kieselsteine unter seinen Sohlen. Sein Atem zeichnete sich in kleinen Wölkchen vor seinem Mund ab. Moritz ging lautlos bei Fuß.
Er marschierte auf den großen Holzspalter zu, ein nützliches, aber bedrohlich aussehendes Arbeitsgerät. Das stählerne Monstrum wirkte beunruhigend auf Steiner. Heute ganz besonders. An den Umrissen konnte er sofort erkennen, dass etwas anders war.
Plötzlich knallte ein Schuss durch die Stille – begleitet von einem unmittelbaren zweiten Donnern, dem Kugelschlag.
Ein Schuss mit Treffer.
Erschrocken schaute Steiner auf seinen Hund. Moritz hechelte aufgeregt neben ihm. Für ihn gab es keinen Zweifel.
Steiners Blick fiel wieder auf die Holzspaltmaschine. Im Nebel wirkte alles unwirklich. Und doch wusste Steiner, dass er gerade mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde.
Gab es ein Zurück? Konnte er sich einfach umdrehen, und nachsehen, welchen Schaden der zweite Schuss angerichtet hatte? Moritz zog ihn in diese Richtung; sein Unterbewusstsein in die andere. Schließlich stand er unmittelbar vor dem stählernen Monster und sah, was er nach seinem Rücktritt aus dem Polizeidienst nicht mehr sehen wollte.
Dort lag ein menschlicher Körper.
Der Spalter, ein schwerer messerscharfer Stahlblock, war heruntergesaust und hatte den Kopf vom Körper getrennt – wie eine Guillotine aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Moritz bellte. Steiner befahl ihm, ruhig zu sein und sich zu setzen. Dann besah er sich den Toten genauer. Er waren die Reste eines Mannes in Jägerkleidung; grüne Hose, Lodenjacke, festes Schuhwerk.
Vom Kopf keine Spur.
Er suchte die Umgebung ab, fand aber nichts Auffälliges. Blutschlieren an dem Stahlblock gaben einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Enthauptung an diesem Gerät durchgeführt wurde. Zu Steiners Überraschung gab es keine Blutlache unterhalb des Rumpfes. Bei dieser Tötungsart müsste eine große Menge Blut geflossen sein.
Er hörte Schritte.
Moritz stellte die Ohren auf, zog die Zunge ins Maul zurück und verharrte wie aus Stein gemeißelt. Ein Zeichen äußerster Wachsamkeit.
Steiner spürte, wie sich ihm die Nackenhaare stellten. Wer kam da durch den undurchsichtigen Nebel? Kehrte der Täter etwa an den Tatort zurück?
Er nahm seinen Revolver aus dem Holster, entsicherte ihn. Unvermindert setzte sich das leise Tack, Tack, Tack fort. Steiner stutzte. Nur ein unbedarfter Spaziergänger ignorierte das Geräusch einer Waffe, die zum Abschuss entsichert wird. Aber in dem Fall war seine Situation auch nicht viel besser. Steiner direkt vor einer enthaupteten Leiche zu finden, würde seine Rolle als Zeuge in Frage stellen. Also musste er zusehen, dass außer ihm niemand bis an den Holzspalter herankam, bevor er nicht selbst die ehemaligen Kollegen über seinen Fund informieren konnte.
Kaum hatte er diese Überlegung angestellt, zeichnete sich aus dem Nebel eine zarte, weibliche Gestalt ab. Erleichtert verstaute er seine Smith & Wesson und trat auf die junge Frau zu. Sie war in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, darunter trug sie eine schwarze Hose, die mit Silber glitzernden Abzeichen bestickt war. Steiner erkannte umgedrehte Kreuze. Ihre Haare waren schwarz gefärbt, die Fingernägel schwarz lackiert, die Umrandung um die Augen ebenfalls schwarz, sogar die Lippen. Piercings an Augenbrauen, Ohren und Unterlippe durften bei der Maskerade nicht fehlen. Ihre Haut schimmerte leichenblass.
Diese Erscheinung erinnerte ihn sofort an mehrere Diensteinsätze. Mit wie vielen Menschen, die sich auf diese Art und Weise vom Leben abschotten wollten, war er in Berührung gekommen? Die schlimmsten von Ihnen bekannten sich zu Satan, hielten Schwarze Messen ab und behaupteten, sich durch Alkohol- und Sexualexzesse innerlich zu befreien. Er hatte seine Arbeit als Förster des Limbergs in der Hoffnung angetreten, von den psychisch Degenerierten genügend Abstand zu gewinnen. Aber das Gegenteil war der Fall. Um verbotenen Ritualen zu frönen, suchten Menschen gerade diese verlassene Gegend auf. Die Scheune, direkt neben der Kapelle auf dem Berg, war der Ort, den sie für ihre perversen Spiele auswählten. Bisher war niemand erwischt worden. Sie ließen nur die Spuren der Verwüstung zurück, vermutlich weil es ihnen Spaß machte, vorbeispazierende Menschen zu schockieren.
Und nun kam eine schwarz gekleidete Frau in aller Frühe auf ihn zu. Dazu noch in der Nähe einer enthaupteten Leiche. Gehörte sie zu den Satanisten? War sie vergessen worden? Oder wollte sie sich an den Früchten der letzten Messe erfreuen?
Er durfte sie nicht zu nah an den Toten heranlassen. Sie war für ihn sofort verdächtig.
»Wer sind Sie und was wollen Sie hier?«
»Das geht Sie nichts an«, kam es unfreundlich zurück.
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