»Es ist heute Nacht nicht sicher hier im Wald«, gab Steiner gereizt zurück. »Am besten ist es, Sie gehen schnell wieder nach Hause!«
Die Frau machte keine Anstalten zu gehen. Er ahnte, dass sie Probleme bereiten würde. Da lag ein Toter, den er der Polizei melden musste, und vor ihm verharrte eine Fremde, die er von dem Toten fernhalten musste.
»Ich gehe jetzt weiter«, verkündete sie und wollte tatsächlich an ihm vorbei.
Steiner stellte sich breitbeinig in den Weg, streckte seinen rechten Arm aus und versuchte nach ihr zu greifen, als sie sofort los schrie: »Lass mich los! Oder bist du ein Perverser?«
Entsetzt wich er zurück, was sie ausnützte und einen weiteren Schritt auf ihn zu machte.
»Bis hierhin und nicht weiter«, befahl er.
»Hast du mir was zu sagen?«
»Erstens sind wir nicht per du, zweitens bin ich hier der Revierförster.«
»Ich bin beeindruckt.« Ironie zeichnete sich auf ihrem blassen Gesicht.
»Hören Sie, hier ist es gefährlich. Es gibt Wilderer in diesem Wald und ich weiß nicht, ob die immer erkennen, auf wen oder was sie schießen. Deshalb rate ich Ihnen noch mal, den Wald zu dieser frühen Stunde zu verlassen.«
»Leck mich, du A…«
»Jetzt reicht es«, unterbrach Steiner die junge Frau. »Sie werden umkehren, wie ich es gesagt habe!«
Steiner hatte keine Zeit, sich mit ihr herumzuschlagen. Er musste zusehen, dass er den Leichenfund meldete. Da er selbst einmal bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte, wusste er genau, wie es auf die ehemaligen Kollegen wirken musste, wenn er dieser Pflicht nicht sofort nachkam. Die Zeit, die bereits verstrichen war, könnte schon zu lange sein.
Das war sie bereits.
Ein Polizeiauto mit Blaulicht kam angerollt, gefolgt von einer ganzen Autokolonne – wie er zu genau wusste, von einer Tatortgruppe, der Spurensicherung, dem Gerichtsmediziner und der Staatsanwaltschaft.
Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Das erste Auto hielt vor ihm an. Aus dem Wagen stieg Theo Barthels, der Leiter der Spurensicherung.
»Harald Steiner«, kam er auf ihn zu. »Was machst du denn hier?«
»Ich bin gerade über eine Leiche gestolpert, was ich euch schon gemeldet hätte, wäre diese aufdringliche Dame nicht ausgerechnet jetzt hier aufgekreuzt!«
»Wir sind bereits informiert worden«, bemerkte Barthels. »Aber nicht von dir.«
»Von wem?«
»Was heißt hier Leiche?«, funkte die schwarz gekleidete Frau dazwischen. »Deshalb hast du mich nicht durchgelassen?«
»Ihr kennt euch?«, schlussfolgerte Barthels sofort.
»Nein!«
In der Zwischenzeit waren auch die anderen Wagen stehen geblieben. Allen voran kam Jürgen Schnur. Als er Harald Steiner erblickte, fragte er überrascht: »Was tust du denn hier?«
»Ich arbeite hier als Förster für das Forstunternehmen von Monsieur Villeroy«, erklärte Steiner.
Jürgen Schnur lachte: »Der Wald ist die Heimat der Jäger! Dann ist es ja kein Wunder, dass ich dich hier antreffe. Ich wusste nicht, dass du unter die Naturburschen gegangen bist.«
»Und was machst du hier?«, stutzte Steiner.
»Ich bin jetzt Kommissariatsleiter der Dienststelle für Kapital- und Sexualdelikte. Das ist mein erster Fall in meiner neuen Funktion.«
»Gratuliere! Ich erinnere mich noch, wie du bei der Kriminalpolizei angefangen hast. Mit dir haben sie einen guten Mann auf den Posten gesetzt.«
»Danke für die Blumen. Hoffentlich bereust du das Kompliment nicht sofort wieder. Wer ist die Frau an deiner Seite?«
»Nimm sie dir genau vor«, flüsterte Steiner statt einer Antwort. »Sie scheint eine der Satanisten zu sein, die hier oben ihre Spiele treiben.«
»Ich nehme mir jeden vor, den ich in der Nähe einer Leiche finde«, entgegnete Jürgen Schnur bestimmt. »Oder meinst du, ich glaube an das Gute im Menschen?«
»Ich bin Anne Richter«, stellte sich die schwarz gekleidete Frau vor.
Sofort kam eine schlanke Frau mit goldblonden Locken auf die Fremde zu und bat sie, ihr zu folgen. Zu Steiners großer Überraschung tat sie das auch.
»Wer ist die schöne Blonde?«, fragte Steiner.
»Das ist Esther Weis, Mitarbeiterin meiner Dienststelle.«
»Es hat sich in den letzten Jahren wohl einiges verändert. Zu meiner Zeit waren keine Polizeibeamtinnen im Außendienst.«
Er bekam keine Gelegenheit, sich lange mit diesem Thema zu beschäftigen, da trat ein untersetzter Mann in fleckiger Hose und abgewetztem Parka auf ihn zu, zeigte mit den Zeigefinger auf ihn und sprach mit gehetzter Stimme und hektischen Bewegungen: »Jetzt haben wir dich! Du bist fertig! Ich wusste von Anfang an, dass du nicht sauber bist. Aber keiner hat auf mich gehört. Hier haben wir die Bestätigung!«
»Was soll das, Rolf?«, rief Schnur, um den Redefluss zu stoppen.
»Du kennst diesen Choleriker?«, staunte Steiner.
»Ja! Ich bin hier aufgewachsen. Da kommt man nicht umhin, Subito-Rolf zu kennen!«
»Dann weißt du ja, was du von diesem Redeschwall zu halten hast«, gab Steiner von sich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas von den Worten, die der aufgebrachte Mann ihm entgegengeschleudert hatte, zu widerlegen.
»Nein, das weiß ich nicht«, gab Schnur scharf zurück. »Ich kenne Rolf West, weiß, dass er seinen Spitznamen nicht zu Unrecht bekommen hat, weil er äußerst impulsiv ist. Was ich aber auch weiß, ist, dass du hier vor einer Leiche stehst, sie aber mit keinem Wort bei uns gemeldet hast.«
»Das habe ich dir doch erklärt.«
»Hast du nicht! Rolf hat schon vor einer Stunde bei uns den Fund eines Kopfes gemeldet. Und dich treffe ich genau am Fundort, an dem der Rest der Leiche liegt. Was soll ich davon halten?«
Zweifelnd schaute Schnur den ehemaligen Einsatzleiter an.
Steiner zog seine Schirmmütze ab und rieb sich über die Glatze. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. In seinen Augenwinkeln sah er die schwarz gekleidete Frau wild gestikulierend mit der hübschen Polizeibeamtin sprechen. Ihr verdankte er, dass er nicht rechtzeitig seinen Anruf tätigen konnte. Nun stand er in Erklärungsnot.
Moritz, sein Hund schaute unentwegt auf sein Herrchen. Sein Schwanz war eingezogen, sein Maul geschlossen, die Ohren gespitzt. So als spürte er die unsichtbare Gefahr, in der Steiner schwebte.
Die kurze Stille wurde von einem lauten »Steiner, Steiner« unterbrochen, das begleitet vom hektischen Durcheinanderrufen der Polizeibeamten zwischen den Polizeifahrzeugen erschallte.
Steiner erkannte diese krächzende Stimme unter tausenden. Es war Micky, der jüngste Sohn von Rolf West.
Sein rundes Gesicht strahlte vor Glück, als er auf Steiner zulief. Das Ausmaß der Situation hatte er nicht begriffen, er sah nur ein Ziel vor Augen, nämlich seinem Freund Steiner mitzuteilen, was er an diesem Morgen erlebt hatte.
»Ich habe den Kopf gefunden«, begann er. »Ich wollte ihn begraben, wie ich das mit toten Tieren auch immer mache. Das war doch richtig, oder?«
Er schaute mit seinem gewinnenden Lächeln zu Steiner hinauf und hoffte auf Bestätigung.
Der Jäger stand ganz betroffen da, ahnte, dass der Junge in seiner Naivität das Schlimmste angerichtet hatte, nämlich den Verdacht zu erregen, Spuren zu beseitigen. Aber was sollte er ihm sagen? In seiner Unbedarftheit hatte Micky nur das getan, was er schon lange tat.
Also strich er ihm über das dunkle Haar, lächelte ihn an und meinte: »Das war richtig, Micky.«
»Da haben wir’s«, brüllte Rolf West sofort los. »Er nutzt die Einfältigkeit meines Sohnes aus, um seine Schandtaten zu vertuschen.«
Mit einem Satz war der hypernervöse Mann dicht vor Steiner. »Wie lange geht das schon so?«
Plötzlich stand sein Sohn zwischen den beiden Männern. Wild entschlossen trommelte er mit seinen kleinen Fäusten auf seinen Vater ein und schrie: »Er ist mein Freund! Er ist mein Freund!«
Читать дальше