„Einmal das rote Frankengold für die junge Dame, zum Wohlsein.“
Als das Glas serviert wird, ist er angenehm kühl. Justine mag es, wenn der Rotwein etwas kälter ist, gerade bei diesen Temperaturen. Sie schwenkt das Glas und hebt es gen Himmel.
„Auf Dich, Tante Vally.“
Es schmeckt vorzüglich. Im Französischen bedeutet Bouquet auch Blumenstrauß, daher passt die Bezeichnung auch wunderbar zu dem charakteristischen Duft der Weine. Der hier schimmert rubinrot im Sonnenlicht.
Die Kellnerin bringt einen kleinen Salat, Klöße mit einer schön einreduzierten, kräftigen Dunkelbiersauce und Scheiben von gebratenen Sommersteinpilzen aus der Region sowie ein Schälchen Rotkraut und eingekochte, süß-säuerliche Johannisbeeren. Das Kraut ist hand-geschnitten und verfeinert mit etwas grob gewürfeltem Apfel, Wachholderbeere und Lorbeerblatt. Lecker!
Erfüllt vom Tag und aufgeregt vor dem morgigen fällt Justine in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie mit dem Wecker um 7 Uhr erwacht, lacht schon die Sonne zum Fenster herein. Am Bahnhof steigt sie nach einem Kaffee, etwas Obst und Körnerbrötchen in die Westfrankenbahn ein und fährt Richtung Obernburg. Gleich werde ich erfahren, was Tante Vally mir vererben möchte.
An dieses „Sicher nur Schulden“ von Tom, wollte Justine nicht glauben. Im Wartebereich nestelt sie aufgeregt an ihrem Umhängebeutel herum, bis sie aufgerufen wird. Dann schließt sich eine schwere Eichentür und die Testamentseröffnung beginnt.
Eine halbe Stunde später erkundigt sich der Notar, ob sie alles verstanden hat oder ob noch Fragen bestehen.
„Ich habe dann sechs Wochen Zeit, um mich zu entscheiden, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen, richtig?“, versichert sich Justine.
Er nickt, schüttelt ihr die Hand und bringt sie zur Tür.
„Hier ist noch ein Umschlag, den Frau Dupont dem Testament beigefügt hat. Er ist an Sie persönlich adressiert. Sie können ihn später in aller Ruhe lesen, für die Testamentsverkündung ist er ohne Relevanz.“
Draußen verstaut Justine den Brief sorgsam mit den anderen Dokumenten in ihre Tasche und wandert wieder Richtung Bahnhof.
Doch Moment!
„Schauen Sie es sich an, bevor Sie sich entscheiden“, riet ihr der Notar noch im Gehen. Ehe sich Justine versieht, sitzt sie im Taxi Richtung Klingenberg, und der Taxifahrer hat die Adresse aus der Erbverkündung in sein Navigationsgerät eingegeben.
„Hier irgendwo muss es sein“, sagt er und parkt den Wagen.
„Okay, warten Sie bitte auf mich“, weist Justine ihn an.
„Die Uhr läuft aber weiter, junge Dame“.
„Das macht nichts, ist in Ordnung.“
Justine schaut sich um und entdeckt eine Hofeinfahrt, die sie langsam hinauf geht. Das schwere, eiserne Tor ist natürlich verschlossen. Sie geht um das Grundstück herum und traut ihren Augen kaum. Vor ihr erscheint das Landhaus von der Postkarte an ihrem Schreibtisch.
„Das gibt’s doch nicht!“, ruft Justine laut aus. Allerdings ist es in die Jahre gekommen und von wilden Gräsern und Pflanzen umwuchert. Mit einem Mal kommt die Erinnerung Stück für Stück zurück, denn hier in diesem Haus lebte sie einen Sommer lang mit Tante Valerie. In diesem Haus lebte die Liebe. Valerie war für Justine wie eine Oma, die sie nie wirklich hatte.
„So ein Mist“, flucht Justine beim Versuch, die Mauer hochzuklettern. Die Hose hat Grasflecken bekommen und Justine auch noch eine blutige Schramme. Der Taxifahrer hat das Fluchen gehört und kommt herbeigeeilt.
„Was ist passiert?“, fragt er ganz außer Atem.
„Wären Sie so lieb, mir Ihre Hände für eine Räuberleiter zu borgen?“, säuselt sie den Mann an.
„Das dürfen Sie nicht, das ist Hausfriedensbruch!“ mahnt er.
„Natürlich darf ich das, schließlich ist das mein Haus!“, triumphiert Justine. Der Mann kommt ihrer Bitte nach. Mit einem Schwung sitzt sie auf der Mauer und springt in den Garten. Wie großartig sich das anhört ... mein Haus.
Die Stockrosen, die rings herum emporragen, sind weit höher als Justine selbst. Ein traumhaftes Anwesen. Sie schleicht ums Haus und versucht, sich Zugang zu verschaffen, doch keine Chance. Alles ist verriegelt. Der Notar hatte ihr mitgeteilt, dass sie den Schlüssel erst nach Erbannahme erhält, wenn sie im Grundbuch eingetragen ist. Beide Hände zu einem schützenden Dreieck vor den Augen, schaut Justine durch die zwei kleinen Fenster, die nicht mit Klappläden verschlossen sind. Sie sieht einen Boden aus alten Mosaikfliesen im Flur und eine Treppe, viel mehr allerdings nicht. Es scheinen Möbelstücke vorhanden zu sein, die aber mit Überwürfen abgedeckt sind. Justine macht mit ihrem Handy Bilder von allem, was ihr – zurück in Hamburg – bei einer Entscheidungsfindung mit Tom helfen könnte. Das Haus ist bald hundertvierzig Jahre alt und war schon immer im Besitz der Familie Dupont, viel mehr Angaben konnte man ihr leider nicht machen.
„Ich müsste dann weiter“, hört sie den Taxifahrer hinter der Mauer rufen. So muss sich Justine schweren Herzens und fast unverrichteter Dinge von dem Ort trennen, den sie gerade erst wieder gefunden hat. Über einen großen Holzklotz gelingt ihr der Überstieg und sie landet nur knapp neben dem Fuß des Taxifahrers, der sie beim Herunterklettern stützt. Ups.
„Lassen Sie mich gerne gleich hier raus“, bittet Justine den Fahrer. Sie möchte jetzt allein sein und ab der Kreuzung kennt sie sich wieder aus. Sie zahlt großzügig und schlendert Richtung Main.
Ahhh, das tut gut … Neben ihr stehen ihre Schuhe, die Füße sind in den kalten Fluss gestreckt. Ein Fisch springt aus dem Strom in die Luft und macht einen Schnalzer.
Da sitze ich nun, auf der anderen Seite des Rubikons. Das Gleichnis begegnete Justine vor längerer Zeit in einem philosophischen Artikel und hat sie seither immer wieder mal gedanklich eingeholt. Es bedeutet vereinfacht gesagt so viel wie: Wenn der Fluss erst einmal durchquert ist, dann gibt es kein Zurück mehr.
Sie nimmt den Brief aus der Tasche und dreht ihn einige Male hin und her. Auf dem fliederfarbenen Umschlag steht in geschwungenen Buchstaben ihr Name. Justine streicht vorsichtig mit der Fingerspitze über die Schrift und stellt sich Tante Vally vor, wie sie ihren Namen dort niedergeschrieben hat. Justine schließt die Augen und riecht an dem Umschlag. Der Geruch ist so sanft und angenehm, wie eine Umarmung von Valerie es gewesen sein muss. Im Moment hat sie nicht die Ruhe, die Zeilen von Valerie zu lesen. Das macht sie dann gleich in aller Ruhe im Hotelzimmer.
An Justine Argon
persönlich
Klingenberg a.M.
Geliebte Justine,
wenn Du diesen Brief in den Händen hältst, dann ist mein letzter Wunsch in Erfüllung gegangen.
Ich werde bald nicht mehr auf Erden sein, daher habe ich eine Detektei beauftragt, in der großen Hoffnung, dass sie Dich ausfindig machen können. Weißt Du, meine Liebe, so mitten im Leben habe ich mir über den Tod keine Gedanken gemacht. Viel zu sehr habe ich jeden einzelnen Tag genossen. Und wer schon könnte verstehen, was mir im Leben so wichtig war? Jetzt, wo mein Körper Schwächen zeigt, kommen mir all diese Fragen in den Sinn. Ich habe keine eigenen Kinder und keine Verwandtschaft mehr. Meine Freunde schätze ich sehr, doch mein Nachlass wünscht eine besonders feine Seele zur Obhut.
Du sollst wissen …
Gebäude und Grundstück sind frei von Schulden. Das Landhaus ist trotz seines betagten Alters und mannigfaltiger Erinnerungen in einem guten und gepflegten Zustand. Ich habe dort bald 80 Jahre meines Lebens verbracht und ich bete zu Gott, dass meine Seele dort weiterhin zu Hause sein darf. Wenn Du Dich entscheiden könntest, das Haus anzunehmen, dann werde ich Dir beistehen, das ist fest versprochen. Mit der Zeit wirst Du einiges erneuern lassen müssen und leider werde ich Dir dafür nur wenig Erspartes dazu legen, doch bei einem bin ich mir sicher. Das Haus besteht auch noch weitere 100 Jahre fort, wenn es niemand abreißt und sich ein Herz liebevoll darum kümmert.
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