Hinter ihr räuspert sich ein anderer Bewohner. Justine fährt erschrocken zurück und schlägt sich den Kopf am Deckel an. Der junge Mann mustert sie misstrauisch, weil sie mit dem halben Oberkörper im Container steckte. Sie macht ihm Platz und klopft sich kurz die Hose ab. Dann stopft sie eilig den Brief in die Handtasche, greift sich die Einkaufstaschen und flüchtet in den Hauseingang. Dort drückt sie die Ruftaste des Aufzugs und wartet, drückt nochmal und nochmal. Der Schweiß läuft ihr unangenehm in Perlen den Rücken hinab. Es ist heute unerträglich warm für Anfang Mai, doch das Hoch „Arabella“ gibt alles.
„Mensch, nun komm endlich!,“ ruft sie und hämmert auf die Taste.
„Pah, da können Sie warten, bis sie schwarz werden“, plärrt die Alte aus dem dritten Stock hinunter. „Der Aufzug ist wieder mal kaputt. Und die Hausverwaltung, die kümmert sich auch wieder nicht. Vor zwei Stunden habe ich da schon angerufen … und Sie sehen es ja selbst: Geht immer noch nicht. Faules Pack.“
Na, die hat mir grad noch gefehlt . Justine lässt das Geschwätz unkommentiert und stapft vollbepackt Stufe für Stufe nach oben. Die Alte in der dritten Etage steht ihr wetternd im Weg, doch Justine blickt sie gar nicht richtig an.
„Guten Tag, Frau Johann,“ murmelt sie aufgrund anerzogener Höflichkeit und erklimmt weiter Höhenmeter für Höhenmeter. Endlich oben, sperrt sie die Tür hinter sich ab.
„Hallo Tom, bist Du zu Hause?“, doch die Frage bleibt unbeantwortet. Gott sei Dank , atmet Justine laut auf, endlich mal Stille.
Sie geht in die Küche, stellt alles ab und legt sich für gleich eine Dose Bier ins Gefrierfach. Als die Einkäufe verstaut sind, streift sie alle Klamotten ab und steigt unter den eiskalten Wasserstrahl der bodentiefen Dusche. Justine duscht immer eiskalt, schon seit Jahren. Tom kann das gar nicht verstehen und schimpft jedes Mal, wenn sie die Dusche nicht umstellt und er ein paar von den kalten Tropfen abbekommt. Die Wohnung war kurz vor ihrem Einzug kernsaniert worden, innen alles vom Feinsten, fast edel. Justine war das nicht wichtig, doch für Tom, oder eher für seine Eltern, konnte es nicht schick genug sein. Die Miete der Wohnung kostet ein kleines Vermögen, das sie alleine niemals dafür ausgeben würde.
Du siehst ganz schön fertig aus , hört sie ihr Spiegelbild sagen, obwohl sie gar nicht richtig hineingesehen hat. Halt den Mund! Sie streckt sich selbst die Zunge raus. Ihre Haut ist blass und etwas unrein, die Schminke vom Schweiß verschmiert. Nur die grünen Augen leuchten hell im Licht, das durchs Fenster hereinfällt.
Der kalte Wasserstrahl der Dusche wäscht die ganze Anspannung des Tages fort und als sie sich abtrocknet, fühlt sie sich deutlich frischer. Zum ersten Mal an diesem Tag verspürt sie Leichtigkeit und lächelt der Frau im Spiegel sogar kurz aufmunternd zu. In der Küche angelt sie sich das Bier aus dem Eisfach und fährt den Laptop hoch, denn sie möchte endlich weiter an ihrem Roman schreiben. Dieses Projekt liegt ihr so sehr am Herzen und muss doch immer wieder zurückgestellt werden. Warum bin ich eigentlich immer so schnell dabei, meine eigenen Projekte für die anderer „zu verschieben“? Man kann fast sagen, das innere Ich und das äußere Ich begegnen sich nur sehr selten. Wenn sie sich überhaupt erkennen, winken sie sich aus der Ferne zu.
Mit einem lauten „Rumms“ landet sie mit dem Laptop auf dem Schoß auf dem Bett, wählt eine chillige Musik auf dem Handy aus und öffnet die Dose. „Zisch!“ Das Bier schäumt und läuft ihr über die Hand. Sie versucht, es schnell abzutrinken, doch es gelingt ihr nicht ganz.
Egal , lacht sie und lässt sich rücklings in die hohen Kissen fallen.
„Cheers, Justine. Das war richtig gut heute!“ Die Dose in die Höhe gereckt, prostet sie sich selbst zu. Sie trinkt in durstigen Schlucken und genießt das Alleinsein. Als das Bier leer ist, rollt sie sich auf die Seite und schläft mit ihrem Rechner im Arm ein. Sie hat kein einziges Wort geschrieben.
Justine erwacht nach einer traumlosen Nacht. Tom liegt neben ihr und schläft noch tief und fest. Wann er nach Hause gekommen war, kann sie nicht sagen. Sie beobachtet ihn kurz und deckt seinen freien Rücken ein wenig zu. Fast neun Stunden geschlafen, Chapeau!
Heute wäre ihr freier Tag, doch nun muss sie für ihren Kollegen Bastian einspringen. Sie kann ihn ja durchaus leiden, doch es nervt sie, dass er sich vor wichtigen Terminen gerne mal eine „bezahlte Auszeit“ nimmt. Und Ines greift immer erst dann durch, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Justine schleicht sich auf Zehenspitzen durch die Schlafzimmertür hinaus in den Flur. Die Sonne blendet ihr bereits grell ins Gesicht, als sie die Küche betritt. Sie öffnet die Balkontür sperrangelweit.
„Guten Morgen ihr Lieben!“ Die Vögel zwitschern mit dem Surren der Kaffeemaschine um die Wette. Sie staunt immer, woher die ganzen Vögel kommen, hier mitten in der Großstadt.
„Warum sucht ihr euch nicht eine andere Gegend, draußen in der Natur? Was hält euch hier? Könnte ich so fliegen wie ihr, ich wäre längst ganz woanders.“
Justine zupft ein paar welke Blätter aus den Blumenkästen und prüft mit dem Finger die Feuchtigkeit der Erde im Topf des kleinen Kirschbaums.
„Oh, Du brauchst dringend Wasser“, stellt sie fest.
Die Entstehung der Kirsche war purer Zufall, weil sie einmal einen Kern durchs Küchenfenster herausgespuckt hatte. Als sie den Keimling sah, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Tom war dagegen, den Baum weiter auf dem Balkon groß zu ziehen, doch Justine setzte sich durch. Die Kirsche erinnert sie so sehr an ihre bereits verstorbenen Eltern. Als Kind hatte sie ihrem Vater beim Anbau von Obst und Gemüse geholfen und verarbeitete im Spätsommer gemeinsam mit ihrer Mutter die Ernte.
„Pflanzen sind der Spiegel unserer Seele“, hatte ihre Mama immer wieder gesagt. Diesen Satz hat Justine nie vergessen. Und deshalb darf die Kirsche auch auf dem Balkon im sechsten Stock mitten in Hamburg gedeihen.
Sie hört die Toilettenspülung im Bad, kurz darauf steht Tom in der Tür. Er ist noch ganz verschlafen und total verstrubbelt. Als sie sein „Guten Morgen, Schönheit“ vernimmt, erwidert sie lächelnd den Gruß.
„Du, ich muss gleich nochmal los auf die Arbeit. Basti ist krank, ich springe ein.“
„Ah, alles klar … dann viel Erfolg. Du, ist was zum Frühstücken da?“
Justine hält kurz inne, denn sie hatte ein wenig mehr Zuspruch erwartet. Schnell schüttelt sie den Gedanken ab und antwortet: „Na klar, Schatz. Im Kühlschrank ist alles, was Dir gut schmeckt.“
„Ha, wusst‘ ich‘s doch. Du bist halt meine Traumfrau“, flachst er etwas gekünstelt. Wirklich ernst gemeint war dieses Geturtel nicht.
Justine hält nur wenig von der einen großen Liebe, zu viele Nieten hatte sie schon gezogen. Was sie immer wieder gerne mochte, war das herzüberlaufende Glücksgefühl des Verliebtseins. Doch Tom ist mehr wie ein Bruder für sie.
Einmal, es war vor ein paar Wochen, da hat Tom so heimlich getan, dass Justine schon Sorge hatte, er bereite einen Heiratsantrag vor. Sie hätte, ohne zu zögern „Nein“ gesagt, und Tom weiß das auch. Der Gedanke an eine Ehe schnürt sich wie ein Korsett um ihren Körper und Enge kann sie nicht gut ertragen. Justine ist seit gut zehn Jahren Vollwaise und hat keine Geschwister, somit sind Tom und die Kollegen so etwas wie ihre Ersatzfamilie.
Ein Hund wäre toll, doch das geht so mitten in der Großstadt nicht.
Ihre „Schwiegereltern in spe“, wie sie sich selbst immer nennen, sind wohlhabend und übernehmen einen Teil der laufenden Kosten für ihren Sohn. Justine kann neben Tom leben, doch sie liebt ihn nicht. Sie hat ihn gewählt, weil er sie als einer der wenigen Menschen mal nicht bedrängt hat. Wenn es ihr nach Geselligkeit ist, gehen sie gemeinsam aus oder er nimmt sie mal in den Arm. Das genügt. Man kann ihre Beziehung in etwa mit der von Kathleen Kelly und Frank Navasky aus dem Film „E-Mail für Dich“ vergleichen . Justine fragte sich schon öfter: Warum bin ich eigentlich noch mit Tom zusammen? Die Antwort lautet jedes Mal: Warum auch nicht? Zugegeben, es gäbe sicher romantischere Motive.
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