Der Junge stoppte unvermittelt seinen Lauf, als er die schlanke Gestalt von Recam erkannte, der ihm mit Longin und Furbin entgegenkam. Er schluckte nervös und vergaß seine Euphorie mit einem Schlag. Sie hatten ihn entdeckt und das bedeutete in der Regel nichts Gutes. Schon verzog sich das markante Gesicht des großen Jungen zu einem freudigen Lächeln, als er ihn sah. Er stieß mit den Ellbogen Furbin an, der ihn im gleichen Moment entdeckte, aber reaktionsschnell mit einer beiläufigen Bewegung den Arm seines Freundes aufhielt.
Geh weiter! Lass dich bloß nicht einschüchtern. Es war sowieso zu spät, wenn sie ihn erst einmal gesehen hatten.
Langsam ging Torek weiter. Hinter den Jungen konnte er schon das Dorf sehen, vielleicht kam er ja doch noch an ihnen vorbei. Longin drehte sich um, um ebenfalls zum Dorf zu blicken. Seine schulterlangen Haare flogen durch die Geschmeidigkeit seiner Bewegung um seinen Kopf wie schwarze Federn.
Torek prüfte, ob sie weit genug weg waren, um kein Aufsehen zu erregen. Er nagte nervös an seiner Unterlippe, während er zögerlich weiterging.
Als sie kurz darauf aufeinandertrafen, versperrten sie ihm wie erwartet den Weg und schauten ihn herablassend an.
„So allein in den Höhlen gewesen, Kleiner? Darfst du das denn schon?“ Recam sah ihn hinterhältig an und richtete seinen beeindruckend breiten Oberkörper kerzengerade auf, um noch größer zu erscheinen.
„Ein Seher darf gehen, wohin er will!“, antwortete er leise und zog den Kopf eingeschüchtert zwischen die Schultern, als Recam belustigt auflachte.
„Ein Seher, habt ihr das gehört?“ Longin hielt sich den Bauch vor Lachen, und seine mädchenhaft feinen Gesichtszüge verzogen sich zu einer komischen Grimasse.
Furbin stimmte in das Lachen seiner Freunde nicht mit ein, sondern hob in gespieltem Misstrauen eine Augenbraue.
„Wenn du ein Seher bist, hast du bestimmt auch das Schlammbad gesehen, das du gleich nehmen wirst?“
Toreks Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und er wich zurück, während das Lachen von Recam und Longin immer lauter wurde. Er wehrte sich nicht, als sie ihn an den Armen packten und unter lautem Johlen mit sich zerrten. Seine Wangen brannten vor Scham, aber es hatte einfach keinen Zweck. Sie waren ihm an Körpergröße und Kraft weit überlegen, auch wenn sie genauso alt wie er waren. Es amüsierte sie nur noch mehr, wenn er seine lächerlichen Versuche unternahm, ihnen zu entkommen.
Sie schleppten ihn nicht lange durch den Dschungel, sondern blieben schon bald am Rande einer schlammigen Pfütze stehen, die die lang zurückliegenden Regenfälle bis jetzt überdauert hatte.
„Möchte der Seher uns noch irgendetwas sagen?“ Recam schob sich vor ihn und grinste, als Torek den Kopf leicht hob, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
Ein Bild von eindringlicher Klarheit schob sich plötzlich in Toreks Kopf. Recam, wie er als Wächter der Seher gekleidet und um einige Jahre älter mit einer tödlichen Wunde im Bauch zusammenbrach.
Diese Vision schleuderte das Hochgefühl, das ihn begleitet hatte, bis er den Jungen begegnet war, um ein Vielfaches intensiver zurück und vertrieb die Erniedrigung. Torek straffte seine Schultern und reckte trotzig sein Kinn. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er das Erstaunen in den Gesichtern der anderen sah.
„Ja, ich möchte dir etwas sagen, Recam, denn ich habe deinen Tod gesehen. Vielleicht möchtest du wissen, wie du sterben wirst?“
Die Selbstsicherheit Recams zerbröckelte von einem Wimpernschlag auf den anderen, und er wurde blass. Furbin packte Torek nach einer Schrecksekunde schmerzhaft am Arm und stieß ihn, gröber als sonst, in den Schlamm. Torek versuchte mit ein paar stolpernden Schritten, den Sturz aufzuhalten, fiel aber laut klatschend in den Dreck.
Es war ihm egal! Ein irres Lachen drang aus seinem Mund, das ihn selbst überraschte und völlig fremd klang. Diesmal lachte er! Torek drehte sich gelassen um und setzte sich mit ausgestreckten Beinen in den Schlamm.
Recam und die anderen standen immer noch am Rand der Pfütze und sahen ihn völlig entsetzt an.
„Du bist ja wahnsinnig!“ Longin spie ihm die Worte wütend entgegen und ging langsam rückwärts.
„Das mag sein, aber er ist in wenigen Jahren tot, der große Krieger!“ Torek lachte nun, dass ihm die Tränen aus den Augen quollen. Mit Genugtuung verfolgte er, wie Longin und Furbin den erstarrten Recam an der Schulter packten und eilig mit sich in den Dschungel zogen.
„Nur noch wenige Jahre, Recam. Und du wirst bei dem jämmerlichen Versuch sterben, ein paar Seher zu retten!“ Das Lachen schüttelte inzwischen seinen ganzen Körper. Torek atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen.
Sie werden mich nicht nochmal quälen, dachte er und stand auf. Den Schlamm wischte er dabei so gut es ging von seiner Kleidung. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich stark. Nachdenklich betrachtete er seine schmalen Hände, die an viel zu langen und viel zu dünnen Armen saßen. Seine Stärke war unübersehbar nicht körperlicher Art, aber immerhin so mächtig, dass ein Mann wie der Oberste Seher großes Interesse daran zeigte. Denn, dass das Interesse über das normale Maß an einem Schüler hinausging, hatte er sehr wohl bemerkt, als er gerade bei Bairani gewesen war. Und das würde er für sich nutzen.
Torek stieg mit neu erwachtem Stolz aus der Pfütze heraus. Er setzte seinen Weg laut jubelnd fort, denn diesmal durfte ihn jeder hören.
*
Nolani schaute verwundert auf, als sie aus der Hütte trat, um ihrem Mann und Durvin zwei Becher mit Batava zu bringen. Lautes Singen schallte den Weg herab. Es war unzweifelhaft die Stimme ihres Sohnes.
„Was ist denn mit Torek?“ Der Seher runzelte leicht die hohe Stirn und sprach damit laut aus, was auch Nolani durch den Kopf ging. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn je so ausgelassen singen gehört zu haben.
Shemar schaute schweigend in die Richtung des Gesangs, aus der sich sein Sohn mit weitausgreifenden Schritten rasch näherte.
„Vielleicht hat er gute Neuigkeiten. Bairani hat heute Morgen nach ihm geschickt.“ Er sprach ruhig, trotzdem veranlasste Durvin ein merkwürdiger Unterton darin, erst Shemar und dann Nolani mit einem langen Blick zu betrachten.
„Er ist ja voller Schlamm!“ Nolani riss erstaunt die Augen auf und ging Torek einige Schritte entgegen. „Was ist passiert, Torek? Bist du wieder Recam und seinen Freunden begegnet?“ Sie machte eine Pause, in der sie Luft holte, um ihre Tiraden fortsetzen zu können. „Ich verstehe das wirklich nicht, ihr vier seid doch zusammen aufgewachsen.“ Nolani stemmte die Fäuste in ihre stämmigen Hüften und ignorierte, dass Toreks Miene sich abrupt verdunkelte und er seinen Gesang einstellte. Er zog seinen Kopf leicht ein, und seine blassen Augen wanderten von einem zum anderen.
„Hallo, Durvin.“
„Torek!“ Durvin lächelte den Jungen freundlich an, und auch sein Vater schenkte ihm ein Lächeln, in dem jedoch auch unverkennbar gutmütiger Spott saß.
„Wie kommst du zu einem Schlammbad, mein Junge?“
Nolani presste vor Ärger die Lippen fest aufeinander. Natürlich fanden beide Männer es wieder höchst amüsant, dass Torek mit den anderen aneinandergeraten war. Ihr Mann vertrat sowieso die Meinung, dass Torek zu weich war und noch lernen musste, sich durchzusetzen. Nolani verdrehte innerlich die Augen und warf einen Blick auf Shemar, der nun mit vor der Brust verschränkten Armen seinen Sohn betrachtete. Er war jetzt fünfzig Jahre alt. Langsam schlich sich das Alter herbei und hinterließ seine noch unauffälligen Spuren auf seinem Körper und in seinem Gesicht. Seine Figur war immer noch stattlich, und er war voller Hingabe und Stolz ein Wächter der Seher, wie er es auch bereits als junger Mann gewesen war.
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