Cale legte die Stirn in Falten und rief Jintel Befehle zu, damit dieser alles zum Auslaufen klarmachte. Das Boot glitt unter den kräftigen Ruderschlägen von Finnegan schnell näher, und Jess enterte müde das Fallreep hinauf. Der Erste Maat sah mit Besorgnis, dass die Miene seines Freundes von neuen Erfahrungen gezeichnet war, als er die Planken der Treasure betrat.
„Kurs Changuinola, Cale. – Es wird endlich Zeit, unseren alten Kurs wieder aufzunehmen.“
„Ich werde ab sofort deine Ausbildung zum Seher übernehmen. Du wirst hier eine der Höhlen beziehen.“
Bairani stand in seiner Höhle und betrachtete Torek, wie dessen blassblaue Augen sich weiteten und seine Kinnlade herabfiel. Der leicht geöffnete Mund, der viel zu groß für das Gesicht wirkte, verlieh dem Jungen einen dummen Ausdruck. Der Seher lächelte still in sich hinein. Dumm war der Junge wirklich nicht. Dies war eine ungewöhnliche Gelegenheit für Torek, der aufgrund seiner schlaksigen und unbeholfenen Gestalt von den anderen Jungen des Dorfes verlacht wurde. Er würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und schnell lernen, seine neue Position für sich zu nutzen. Bairani genoss den Gedanken, den Jungen formen zu können.
„Ich möchte aber erst, dass du mir deine Visionen zeigst. Komm her zu mir, mein Junge.“ Bairani hob fordernd die Hand, um sie Torek zwischen die Augen zu legen. Sobald seine Finger die leicht schwitzige Haut berührten, wurde er von einem gewaltigen Strom von Bildern bedrängt. Sie stürzten unkontrolliert wie eine Lawine auf ihn herein, die sich an den Hängen des Vulkans löste und ungebremst in die Ebene polterte. Der Oberste Seher atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, eine leichte Barriere zu bauen, um dahinter die Visionen zurückzuhalten. Dann erschuf er einen kleinen Durchgang, durch den er jedes Bild einzeln passieren ließ. Überwältigt betrachtete er die nicht endenwollende Flut. Was er da sah, übertraf seine größten Erwartungen, der Junge sammelte offensichtlich die Visionen sämtlicher Seher in sich. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Er sah Bilder aus der Vergangenheit, die für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig uninteressant waren. Gefolgt wurden diese von Geschehnissen, die jetzt stattfanden, und Bairani sah schon etwas genauer hin. Aber auch an diesen Bildern verlor er bald das Interesse. Dann endlich kamen Bilder aus der Zukunft. Eines zeigte Torek in der Kleidung der Seher, wie er neben ihm selbst stand und die anderen Seher sich vor ihnen verneigten. Ein Strudel von Bildern folgte, und Bairani erstarrte erschrocken. Es war einfach unbeschreiblich. Dieser Junge schaffte, was sonst keinem gelang. Visionen von anderen Sehern waren bisher keinem möglich gewesen, da sie viel zu viele andere Bilder mit sich brachten. Doch für Torek schien es kein Problem darzustellen. Stattdessen wurden diese Bilder von einem plötzlichen Machtgefühl begleitet, das Torek wie ein Fluss durchströmte, dessen Quelle gerade erst entdeckt worden war. Bairani musterte den Jungen genauer, und der merkwürdige Glanz, der in dessen Augen getreten war, bestätigte seine Vermutung, dass Torek nur zu gerne zu einem treuen Anhänger von ihm werden würde.
Eine gewaltige Vision drängte Bairanis Gedanken beiseite und er widerstand nur mühsam dem Impuls, davor zurückzuweichen. Er sah sich unter dem großen Felsenbogen stehen, der in die Höhlen führte. Sein Blick war auf jemand oder etwas vor ihm gerichtet, als plötzlich Jess Morgan am Rande der Szene auftauchte. Er schleuderte etwas nach ihm und brach dann zusammen. Bairani wollte erst jubeln, als er sah, wie er sich selbst an den Hals griff und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden stürzte. Mit einer panischen Bewegung riss er überrascht die Hand von Toreks Stirn. Das Bild war fort, doch hatte es etwas zurückgelassen, mit dem der Oberste Seher für den Moment vollkommen überfordert war. Er ignorierte die zusammensinkende Gestalt Toreks. Sein Herz raste und Bairani schluckte schwer. Nachdenklich betrachtete er Torek, der sich mühsam aufrichtete. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Zitternd griff Bairani nach einem Becher, der in einer Nische in der Wand stand. Gierig trank er und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte es möglich sein, dass … Nein, keine Vision war endgültig, es gab immer wieder Möglichkeiten, dass sich alles änderte.
Torek war inzwischen wieder ganz auf die Beine gekommen und lehnte schweratmend an der Höhlenwand. Er hielt seine Augen geschlossen und war blass geworden.
„Hol jetzt deine Sachen, Torek. – Und kein Wort zu irgendjemand über deine Visionen, hörst du?“ Bairani hielt den Jungen am Arm fest, als er an ihm vorbeigehen wollte und sah ihm beschwörend ins Gesicht. „Lass niemanden in deine Visionen blicken außer mir. Du hast eine so große Gabe, wie leicht würde jemand diese für sich nutzen wollen. Jeder wird auf dich eifersüchtig sein, wenn er erst erfährt, was du wirklich kannst.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Selbst ein Mann wie Tamaka gab dem Gefühl des Neides nach und tötete den armen Ronam und seine unschuldige Tochter. Sei also auf der Hut - selbst vor deinen Eltern.“
Torek sah ihn verständnislos an und nickte verwirrt, bevor er die Höhle verließ. Der Oberste Seher sah ihm hinterher. Wenn der Junge lernte, mit diesen Visionen umzugehen, dann war er davon überzeugt, dass er sie auch ganz gezielt heraufbeschwören konnte. Er würde alle anderen Seher ersetzen können, zumindest die, die langsam begannen, lästig zu werden. Schon länger regte sich unterschwelliger Widerstand bei einigen Sehern, die nicht damit einverstanden waren, dass er immer mehr Schiffe bauen ließ und sie fortschickte, um andere Handelsfahrer zu überfallen. Ronam war der Schlimmste gewesen, der ihn noch vor der letzten Sichtungszeremonie unbedingt zur Rede hatte stellen müssen. Doch er war kein Problem mehr, dachte er mit grimmigem Lächeln.
Bairani kam ein plötzlicher Gedanke, und er ging zu einer mit einem schweren roten Vorhang abgetrennten Nische auf der anderen Seite der Höhle. Entschieden schob er den Vorhang zur Seite und betrachtete die gigantische Truhe, die dahinter verborgen stand. Ihre Wände waren aus Stein gemeißelt und lediglich der Deckel bestand aus einem dunkel glänzenden Holz, in dessen Mitte das Abbild eines Vulkans mit großer Kunstfertigkeit geschnitzt worden war. Bairani fixierte misstrauisch die Truhe, die er niemals zuvor geöffnet hatte. Einen Moment stand er so völlig unbewegt da, bis er sich einen Ruck gab und mit beiden Händen den schweren Deckel öffnete. Die Truhe war seit ewigen Zeiten nicht mehr geöffnet worden, trotzdem war nicht das kleinste Geräusch zu hören, als sich der Deckel bewegte. Bairani atmete angestrengt und besah sich den Inhalt. Eine Vielzahl von Pergamentrollen kam zum Vorschein, doch sein Blick wurde von einer einzelnen Rolle wie magisch angezogen. Sie war vergilbt. Das Band, das sie zusammenhielt, war ausgeblichen und erinnerte nur noch schwach an die einstmals wohl intensive rote Farbe. Bairani leckte sich über die Lippen und griff voller Ehrfurcht in die Truhe, um das Pergament an sich zu nehmen.
*
Torek lief den Hang hinunter als könnte er fliegen. Die Erschöpfung war wie fortgeblasen. Sein Lauf wurde von dem unglaublichen Gefühl beflügelt, von Bairani zu seinem Schüler gemacht worden zu sein. Bairani wollte ihn unterrichten!
Torek sprang, rannte und jubelte innerlich, denn er wagte nicht laut zu jubeln, aus Angst, gehört zu werden.
Er sei etwas ganz Besonderes, hatte der Oberste Seher gesagt. Seine Mutter würde so stolz auf ihn sein.
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