Als dann doch ein lautes Geräusch die Luft durchschnitt, zuckten Melina und Celeste zusammen. Die Drachen flogen eilig davon, um sich im hohen Gras ihrer Wiese zu versteckten. Die beiden Frauen zogen kampfbereit ihre Schwerter.
Adrenalin durchströmte Celestes Körper, als ein Streitwagen mit vier schwarzen Pferden auf sie zugerast kam. Ein hochgewachsener Mann in feinster Seide gehüllt hielt die goldenen Zügel. Da der Wagen nicht anhielt, sprangen sie zur Seite, bevor sie unter die Hufe oder die Räder kommen konnten. In einiger Entfernung wendete das Gespann, bis es dann schließlich doch stehen blieb.
Melina stellte sich an Celestes Seite, bereit, sich zu verteidigen. Ophir und Azia hielten auf Anweisung Abstand, doch auch sie waren nervös.
Hasserfüllte Augen musterten die beiden Frauen und es kostete Celeste alle Selbstbeherrschung, nicht erneut zusammenzuzucken, als er das Wort an sie richtete: „Wer seid ihr, dass ihr es wagt, in mein Heiligtum einzudringen?“
„Wenn ihr uns sagt, wo genau wir hier sind, können wir darauf vielleicht eine Antwort geben“, erwiderte Celeste.
Als der Mann eine Peitsche in die Hand nahm und mit dieser nach ihr schlug, war sie nur eine Sekunde zu langsam. Das Ende erwischte sie mitten im Gesicht, sodass eine blutige Wunde unterhalb ihres rechten Auges entstand. Ihre Wut verleitete sie beinahe dazu, zum Gegenangriff überzugehen, doch ihr jahrelanges Training brachte sie zur Vernunft. Nachdem sich der rote Schleier vor ihren Augen entfernt hatte, sah sie, dass der Fremde sie nachdenklich musterte.
„Du blutest“, stellte er erstaunt fest.
Celeste wischte mit dem Handrücken über ihre Wange und wich dem Blick des Mannes nicht aus, als sie antwortete: „Ist das jetzt eine Frage oder eine Feststellung?“
Melina zischte neben ihr. Auch die Bergnymphe war sich der Gefahr bewusst, in der sie schwebten. Sie hätte wahrscheinlich weniger aufmüpfig geantwortet, doch Celeste konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut.
Als der Fremde den Kopf in den Nacken legte und anfing zu lachen, sahen sich die beiden Frauen irritiert an.
„Dein loses Mundwerk ist köstlich. Es kann dich eines Tages das Leben kosten, aber ich muss sagen, dass sich schon lange kein Sterblicher mehr so frech mit mir unterhalten hat.“
Diesmal sagte Celeste nichts. Der Mann stieg von seinem Streitwagen ab, wodurch zu erkennen war, dass er mindestens zwei Köpfe größer war als Melina, die schon eine beachtliche Größe besaß.
„Ihr seid hier in der Unterwelt, in der es seit Ewigkeiten keine toten oder lebendigen Sterbliche mehr gegeben hat.“
„Ich bin eine Bergnymphe und keine Sterbliche“, rutschte es nun Melina heraus.
Das brachte ihr auch sogleich einen interessierten Blick ein. „Ja, jetzt, da du es sagst, sehe ich das auch. Und deine Freundin kommt anscheinend auch aus Edrè.“ Der Mann schüttelte den Kopf, so, als habe er zuvor etwas vergessen oder als ob er einen lästigen Gedanken abschütteln wollte. „Mein Name ist übrigens Hades.“
„Hades, der Gott der Unterwelt?“, fragte Celeste überrascht. Sie war in ihrem ganzen Leben noch keinem Gott begegnet und nun musste sie ausgerechnet dem Gott des Todes begegnen.
Der Mann lächelte sie an, doch in seinem Gesicht war keinerlei Freude zu erkennen. „Ja, genau. Und jetzt sagt mir, warum ihr hier seid.“
„Wir wissen es nicht genau. Es war nicht unsere Absicht, in euer Reich einzudringen“, erwiderte Melina.
Der Gott schaute sie nachdenklich an. „Ich glaube dir. Dann wurdet ihr wohl von jemandem hierher gebracht. Und zwar von jemandem, der euch nicht besonders wohlgesinnt ist.“
„Wie kommt ihr darauf?“, fragte Celeste.
„Weil jeder, der die Kraft zu solche einer Tat besitzt, weiß, dass ich Eindringlinge normalerweise ohne zu fragen aus meinem Reich tilge.“
„Und ich nehme an, sie sind dann nicht mehr dazu in der Lage, Fragen zu stellen oder zu beantworten“, erwiderte Melina trocken.
„Ja, genau.“
„Was hat euch diesmal davon abgehalten?“, forderte Celeste ihr Schicksal heraus. Ihr war durchaus bewusst, dass sie hier erst einmal festsaßen. Das hieß, entweder konnten sie Hades überreden, ihnen zu helfen, oder sie wären hier unten gefangen. Und niemand konnte sagen, ob der Gott nicht doch seinen Gewohnheiten treu blieb und sie tötete.
„Dein Blut.“
Erstaunt erwiderte Celeste: „Mein Blut?“
„Ja. Das getrocknete an deiner Kleidung und das frische in deinem Gesicht. Dein Blut verrät mir etwas, das du wahrscheinlich nicht einmal weißt.“
Als mit einem Mal ein strahlendes Lächeln auf Hades’ Gesicht erschien, schauten sie ihn misstrauisch an. In Gedanken musste Celeste Azia zur Ruhe zwingen, denn ihr Adler wollte Hades am liebsten die Augen auspicken.
„Wisst ihr was? Ich bin gerade in der Stimmung, in diesem ganzen Spiel ein wenig mitzumischen. Das heißt, ich werde euch nicht töten. Dafür werde ich euch eine Geschichte erzählen.“
Celeste konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass der Gott mit ihnen spielte. Doch hatten sie eine andere Wahl, als mitzuspielen?
Als Hades einmal mit der Hand in der Luft wedelte, erschien auf der Wiese mit einem Mal eine große Decke. In der Mitte stand ein Weidenkorb, in dem sich eine Flasche Wein, Gläser und allerlei Köstlichkeiten befanden. Hades ließ sich aufseufzend nieder und schenkte sich zuallererst ein Glas der roten Flüssigkeit ein.
„Möchtet ihr auch ein Gläschen?“
Beide Frauen schüttelten den Kopf.
„Aber zumindest könntet ihr die Höflichkeit besitzen, euch zu setzen.“
Nur widerwillig kamen sie dieser Bitte nach, die sich eher wie ein Befehl anhörte.
Zufrieden nippte der Gott des Todes an seinem Glas, ehe er zu sprechen anfing: „Kennt ihr die Legende über Lamia?“
Melina und Celeste nickten zustimmend.
„Gut, gut. Aber bevor wegen Lamia Edrè geschaffen wurde, existierten nur drei Ebenen. Die Welt der Götter, die Erde und die Unterwelt. Je nach Land und Kultur hat man mir und den anderen Göttern verschiedene Namen gegeben. Aber das Ergebnis war das gleiche. Alle Verstorbenen landeten in der Unterwelt und von hier aus wurden sie verteilt.
Ich hatte Tausende Untergebene, die für Ordnung sorgten. Darunter auch niedere Götter. Da gab es zum einen Thanatos. Er kümmerte sich um die Seelen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Seine Schwester Ker war für diejenigen zuständig, die gewaltsam von der Oberfläche getilgt wurden.
Doch als Zeus und die Götter, die sich um ihn geschart hatten, Lamia zu besiegen versuchten, erschufen sie unbeabsichtigt eine vierte Ebene.“ Zum ersten Mal wurde Hades’ Stimme bitter.
„Und da es ihre erneute Aufmerksamkeit gefordert hätte, die alte Weltordnung wiederherzustellen, haben sie es so belassen, wie es war. Doch man gab einigen Menschen besondere Kräfte. Später wurden sie die Dunklen genannt. Sie wurden ausgebildet, damit die Seelen eingefangen werden konnten. Wahrscheinlich bin ich der einzige Gott, der sieht, dass eure Welt anfängt zu bröckeln. Jemand oder etwas hat einen Riss im Tartaros versursacht, der direkt nach Edrè geht.“
„Was ist der Tartaros?“, fragte Celeste.
„Das, kleine Dunkle, ist der Ort, an dem früher die Seelen und Monster gefangen gehalten wurden, die so viel Blut an ihren Händen kleben hatten, dass sie erst einmal ausgiebig bestraft werden mussten, bevor ich sie wieder in die Welt entlassen konnte. Manche leben dort seit Jahrtausenden.“ Erneut unterbrach Hades seine Erzählung. Genüsslich nahm er ein Stück Brot und Käse aus dem Korb.
Jede Faser in Celeste wollte ihn dazu bringen, mit seiner Erzählung fortzufahren, doch sie wusste, dass sie ihn nicht drängen konnte. Schließlich nahm er den Faden doch wieder auf.
„Ihr überlegt jetzt sicherlich, dass das der Grund ist, warum so viele Monster in eurer Welt auftauchen. Ja, das ist durchaus möglich.“
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