„Vielleicht deine Rivalen in deiner Einheit?“
Celeste schüttelte den Kopf. „Sie würden sich nicht solch einen Plan ausdenken. Jeder Konflikt wird immer sofort angesprochen und gelöst. Außerdem hätten sie dann mit Thalia Kontakt aufnehmen müssen, um die Falle aufzustellen.“
Melina fuhr mit den Fingerspitzen über die tiefen Kratzspuren an der Wand neben ihr. „Dein Gefühl sagt dir, dass du den Worten deiner Tante glauben kannst. Und es sagt dir, dass du so schnell wie möglich zum Tempel gelangen solltest.“
„Ja.“
„Dann solltest du darauf vertrauen. Es kam seit Jahrzenten nicht mehr vor, dass eine Weise eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Wir haben in kürzester Zeit bereits zwei Monster getroffen. All das sind Hinweise, die wir nur noch entschlüsseln müssen.“
Da Celeste ihrer Freundin nur zustimmen konnte, verließen sie den Ort, an dem ein Leben so gewaltsam beendet wurde. Das Haus würde irgendwann verfallen und der Wald würde sich jeden Millimeter Boden zurückerobern. So verlangte es das Gesetz der Natur.
Azia hatte unterdessen auf dem Felsen auf sie gewartet, genauso wie Ophir, der sich dicht an Melinas hochgewachsene Gestalt schmiegte, als diese sich neben ihn stellte. Celeste nahm in Gedanken Kontakt mit Azia auf, die nur widerwillig auf ihren Arm flog. Es brauchte ein paar Streicheleinheiten und ein Stück Fleisch aus ihren Vorräten, doch dann entspannte sich der Adler endlich.
Die zwei Frauen und die zwei Tiere legten das erste Stück des Weges zu Fuß zurück, denn ansonsten konnten sie den Eingang zu einem Geheimgang leicht übersehen. Nacheinander schlüpften sie durch den schmalen Spalt, der in das Innere des Berges führte.
Zum Glück konnte Ophir sich so strecken, dass auch sein massiger Körper hindurchpasste. Azia hatte bequem auf Celestes Schulter Platz genommen und sah den geflügelten Löwen hochmütig an. Erst als Ophir seine messerscharfen Zähne zeigte, drehte sich der Adler weg.
Stickige Luft und magische Fackeln an den Wänden begrüßte sie, während sie langsam weiterliefen.
„Ich weiß immer noch nicht, warum dieser Tempel nicht aus der Luft erreicht werden kann. Es wäre so leicht, einfach hinzufliegen“, murrte Melina, die es selten lassen konnte, sich über die Menschen aufzuregen.
„Genau deswegen. Es wäre zu einfach“, antwortete Celeste. Doch auch Celeste musste gestehen, dass ihr ein anderer Weg lieber gewesen wäre.
Zu ihren eigenen Gefühlen bezüglich der massigen Wände und der Enge kam noch Azias Angst hinzu, die ein Geschöpf der Luft war und nur Celeste zuliebe mitreiste. Sie konnte sich auch nicht auflösen und die Gänge einfach so passieren. An fast jeder Ecke wartete eine Falle auf ungeschickte Reisende. Melina und Celeste wechselten sich dabei ab, diese zu entschärfen, damit sie ungehindert passieren konnten.
„Wirst du deinem Bruder sagen, dass du mich zum Tempel begleitet hast?“, fragte Celeste, um sich von der beklemmenden Umgebung abzulenken. Sie zuckte auch nicht zusammen, als hinter ihr vergiftete Pfeile aus der Decke geschossen kamen.
„Nein. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Er schließt sich mit seinen Beratern ein, um über die nächsten Schritte auf dem politischen Parkett zu beratschlagen. Als Anführerin der Garde liegt es in meinem Aufgabenbereich, mich um seine und um die Sicherheit der unseren zu kümmern.“
Celeste hegte gemischte Gefühle für den Prinzen der Bergnymphen. Er war zwar der Zweitgeborene des Königspaares, doch schon früh hatte Melina sich dagegen ausgesprochen, eines Tages zu regieren. Vielleicht hätte der Prinz dann eine andere Kindheit gehabt. Doch so wurde er seit seiner Geburt darauf vorbereitet, den Platz seiner Eltern einzunehmen.
Wie viele Nymphen hegte er ein gewisses Desinteresse den Menschen gegenüber. Doch die Anführer der Häuser und die Generäle der Dunklen konnte er nicht einfach ignorieren. Und dieser Umstand missfiel dem Prinzen zunehmend. Dazu kam, dass seine Schwester, die jederzeit Anspruch auf den Thron erheben konnte, mit einer Dunklen befreundet war. Sie verstand zum Teil seine Beweggründe und doch gefiel ihr nicht, wie er sich ihr gegenüber verhielt.
Als der Gang vor ihnen mit einem Mal endete, blieben sie verwirrt stehen.
„Das ist neu“, murmelte Melina, während sie mit der Handfläche das Gestein abtastete, das ihnen den Weg versperrte.
Das Gefühl einer nahenden Bedrohung überkam Celeste, noch bevor Ophir vor ihr anfing zu knurren.
„Wir sollten …“ Zu mehr kam die Dunkle nicht, denn der Boden unter ihnen öffnete sich, sodass sie in die Dunkelheit hinabstürzten. Ein Schrei entwich ihrer Kehle, doch ihr Glück war, dass sie kein normaler Mensch war. Bevor sie unten aufschlug, löste sie ihren Körper auf. Erst am Boden verfestigte sie sich wieder. Azia kam mit kräftigen Flügelschlägeln direkt über ihr in der Luft zum Stehen. Mit einem dumpfen Aufprall landete auch Ophir neben ihr, mit Melina auf seinem Rücken.
„Jetzt würde ich behaupten, das war doch eine Falle“, sagte die Bergnymphe, als sie sich kampfbereit umsah.
Auch Celeste ließ ihren Blick schweifen und erstarrte. Vor ihnen befand sich eine Steinbrücke, die an den Seiten von Efeu berankt war. Unter der Brücke strömte ein Fluss hindurch. Sogar Fische konnte sie durch das glasklare Wasser schimmern sehen. Es roch nach Frühling und sie sah einzelne Vögel umherfliegen. Sie folgte dem Flusslauf mit den Augen und erkannte nicht weit von ihnen entfernt eine steile Felswand. Ein Wasserfall füllte den Fluss mit frischem Wasser.
Doch was Celeste eine Gänsehaut bescherte, war die Stille. Denn obwohl sie all das sahen, hörten sie nichts.
„Wo sind wir hier?“, fragte sie in der Hoffnung, dass Melina eine Antwort hatte.
Doch die Bergnymphe konnte nur mit den Schultern zucken. Zumindest konnten sie miteinander sprechen.
Neben dem Fluss erstreckte sich eine Wiese wellenartig in ein Tal hinab. In der Ferne sahen sie einen Palast, doch Celeste konnte nicht einschätzen, wie weit er wirklich entfernt war.
Als kleine fliegende Schuppentiere sich von der Wiese erhoben, fragte Celeste angespannt: „Kannst du deine Kräfte benutzen?“
„Ja, wenn auch etwas langsamer als sonst. Wie sieht es bei dir aus?“
Auch Celeste versuchte die Kraft in ihrem Körper anzuzapfen und stellte beruhigt fest, dass ihre Kräfte anders als im Gebiet der Waldnymphen einsatzbereit waren. „Ja.“ Misstrauisch beäugte sie die kleinen Flugwesen, die sie nun sichtbar aufgeregt umflogen. Azia startete aus der Luft immer wieder Scheinangriffe, doch die kleinen Wesen ließen sich davon nicht beirren.
„Das sind Drachen“, flüsterte Melina ehrfürchtig, als sie eine Hand austreckte und sich eine der fliegenden Echsen darauf niederließ.
Intelligente Augen saßen auf einem länglichen Kopf. Die Flügel sahen so aus, als ob die kleinste Berührung ein Loch hineinreißen konnte. Der Schwanz war genauso lang wie der schmale Körper. Mit ihm hielt das kleine Wesen Melinas Handgelenk umschlungen. Als das kleine Wesen eine Flamme ausstieß, lachte die Bergnymphe erfreut auf.
Nur Celeste hielt sich noch zurück, da sie den kleinen Wesen nicht traute. Erst als einer der Drachen direkt vor ihrem Gesicht mit schlagenden Flügeln anhielt, streckte sie vorsichtig die Hand aus, um ihn zu streicheln. Die Haut fühlte sich wie eine Rüstung an, sie war hart und angenehm warm. Sogar die Farbe der Schuppen war unterschiedlich und bei näherer Betrachtung glitzerten sie im Licht der unecht wirkenden Sonne am Firmament.
„Was sind Drachen?“, fragte sie.
„Das sind Wesen, von denen wir Nymphen annahmen, dass sie eine Erfindung sind. Fabelwesen sozusagen. Sie wurden von Hephaistos erschaffen, dem Gott des Feuers.“
Als ob die Drachen beweisen wollten, dass sie eben nicht nur Fabelwesen waren, kamen nun immer mehr angeflogen, bis auch Azia ihre Versuche, sie zu vertreiben, aufgab und auf Celestes Schulter Platz nahm. Von Ophir hielten die fliegenden Wesen wohlweislich Abstand, denn der Löwe machte nicht den Anschein, dass er eines dieser Wesen in seiner unmittelbaren Umgebung dulden würde.
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