»Äh, hallo, Martin«, sagte Martin.
»Schön, äh, nett sie, äh, dich kennenzulernen.« Verlegen wandte Jürgen Simmerlich, sich an Franzi: »Franzi, könnte ich bitte einen Kaffee bekommen?«
»Gerne! Wie immer mit Milch und Zucker?« Franzi hatte den Becher schon in der Hand, als Lilly sich einmischte. »Ach, Kaffee kannst du auch nachher noch trinken. Du wolltest mir doch mit der Vitrine helfen. Und ...« Sie sah auf eine imaginäre Uhr am Handgelenk. »Es ist schon verdammt spät!« Ungeduldig trippelte sie auf der Stelle. »Kommst du?«
»Ja klar, ich komme.« Er wollte schon hinter Lilly hereilen, drehte sich aber doch noch mal um und lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid! Kann ich vielleicht später ...« Was er hatte sagen wollen, blieb offen. Lilly ließ ihm keine Zeit für weitere Erklärungen. Sie zog ihn einfach hinter sich her und quasselte auf ihn ein.
»Wer war das jetzt?«, fragte Martin, während er den beiden nachsah.
»Das war Jürgen, Lillys Schatten. Sie nutzt ihn von vorne bis hinten aus, und er scheint es auch noch zu genießen. In der Bank, in der er arbeitet, nennen sie ihn schon Glitzi, weil er sich andauernd etwas von Lillys Aura einfängt. Dabei ist er ein ziemlich hohes Tier und ein ganz Schlauer.« Erklärend fügte sie hinzu: »Der Freund meines Mitbewohners kennt ihn recht gut, sie haben geschäftlich oft miteinander zu tun.«
»Na ja, allzu unglücklich sah er nicht aus. Jeder wie er mag.«, sagte Martin.
»Da hast du recht.« Franzi räumte die leeren Kaffeebecher weg. »Apropos, ich mag zwar nicht, aber ich muss mich jetzt um meine Erbsensuppe kümmern. Komm doch nachher auf einen Teller vorbei.«
»Gerne!« Martin schluckte. »Ich glaube, ich sollte mal nach meinen Bäumen schauen.« Er versuchte noch, einen Blick von Franzi zu erhaschen, doch die war bereits hinter der Theke abgetaucht. Nicht gerade enthusiastisch machte Martin sich auf den Weg. Doch kaum war er um Franzis Stand herumgegangen, sah er mehrere Leute mit Tannenbäumen im Schlepptau, die sich schon ungeduldig umsahen, und er beeilte sich zu seinem Stand zu kommen.
Den ganzen restlichen Tag hatte Martin fast ununterbrochen zu tun. Er stellte Bäume auf und wieder zurück, drehte sie, passte Ständer an, beriet, verschnürte und verpackte ... Erst am Abend, als bei den ersten Weihnachtsmarktständen schon die Klappen heruntergelassen wurden, ließ der Kundenansturm nach. Fast ein bisschen ungläubig, aber sehr begeistert zählte er das Geld in seiner Kasse.
Mit einem solchen Ansturm gleich am ersten Tag hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet. Sein Vorrat an Bäumen war allerdings auch sichtlich geplündert. Etwas Nachschub hatte er noch auf seinem Transporter, aber wenn das so weiter ginge, würde er in wenigen Tagen neue Bäume holen müssen.
»Und? Wie ist es gelaufen?« Franzi hatte ihren Stand bereits geschlossen und wollte kurz horchen, wie es Martin ergangen war.
»Super! Wenn es weiterhin so gut läuft, wird der gute Waldemar auch noch dran glauben müssen. Ich hatte heute schon Kunden, die nach ihm geschielt haben.«
»Untersteh dich! Dann wirst du wieder zur Tanke verbannt!« Schützend stellte sich Franzi vor den stacheligen Mann. Dabei fiel ihr wieder die grellbunte, unförmige Mütze auf. Sie tippte an den großen, neongrünen Bommel. »Die ist aber schon speziell«, sagte sie.
»Ja, da hast du sicher recht.« Martin grinste. »Ich habe sie von meinen Nichten bekommen, damit ich nicht friere, wenn ich in der Kälte Weihnachtsbäume verkaufe.«
»Ach, das ist ja süß!«
»Ja, find ich auch. Aber Waldemar steht sie viel besser als mir.« Er fügte hinzu: »Sie kratzt leider ganz fürchterlich. Doch ich fürchte, ich muss sie wieder aufsetzen, wenn ich Weihnachten zu Haus bin.«
»Wie wäre es, wenn du deinen Nichten ein Foto von Waldemar schickst und ...« Ein kleiner, perfekter Schneekristall, der auf ihrem Ärmel landete, lenkte sie ab. Es landete noch einer und noch einer und dann waren es nicht mehr einzelne Kristalle, sondern kleine glitzernde Kristallhäufchen. Franzi ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und blickte zum Himmel hinauf. Dicke weiße Flocken flogen ihr entgegen, schmolzen in ihrem Gesicht und hinterließen kleine Wassertröpfchen. »Endlich, es schneit!« Sie strahlte. »Ist das nicht schön!«
Er lachte. »Ja!« Martin fand nicht nur die winzigen, weißen Sterne in ihren Locken wunderschön.
Auf einmal war Franzi gar nicht mehr müde und verschwendete auch keinen Gedanken mehr an die Arbeit, die sie sich für diesen Abend vorgenommen hatte.
»Komm, lass uns zu Fuß gehen«, sagte sie. »So weit ist es nicht und ich habe keine Lust auf die überfüllten Busse.« Wie ein kleines Kind konnte sie vor lauter Freude nicht stillstehen und hüpfte von einem Bein auf das andere.
»Warte einen Moment, ich will nur noch meine Tasche holen.«, sagte Martin.
Franzi blieb stehen. »Sag mal, ich weiß gar nicht, wo du wohnst, musst du überhaupt in die gleiche Richtung?«
»Ja klar! - das heißt, eigentlich wohne ich ein bisschen außerhalb in dem WG-Zimmer von einem Freund.« Als er ihr fragendes Gesicht sah, fügte er schnell hinzu: »Aber es ist die gleiche Richtung und mein Transporter steht noch an der Tankstelle.«
Eine Weile liefen sie schweigend, geschafft aber glücklich und ein bisschen verlegen nebeneinanderher. Sie kamen am Opernhaus vorbei und blieben vor den Schaukästen stehen, in denen Szenenbilder und Kostüme ausgestellt wurden.
»Sie spielen Hänsel und Gretel, richtig schön klassisch weihnachtlich.« Martin hatte die unverkennbaren riesen Pappmaschee-Kekse entdeckt. »Wie ist die Oper hier eigentlich?«, fragte er. Franzi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich war noch nie in der Oper.«
»Noch nie?«
»Noch nie!«
»Oh, das müssen wir ändern! Wir könnten doch vielleicht mal zusammen gehen?!«
»Ja vielleicht nach dem Weihnachtstrubel. Eigentlich würde ich furchtbar gerne mal in die Oper gehen. Meine Mutter wollte mich immer mitnehmen ...« Ihre Worte blieben in der Luft hängen. Franzi schaute zum hell erleuchteten Eingang des Opernhauses, vor dem sich die ersten Gäste sammelten. Bewundernd betrachtete sie die festlich gekleideten Menschen. »Wow! Schau dir die Kleider an. Was heißt Kleider?! Das sind ja richtige Roben! Ich dachte, so was gibt es nur im Film.«
Martins Blick streifte nur kurz, die aufwendig gekleideten Premierengäste und wanderte dann gleich wieder zu Franzi zurück. »Du gefällst mir besser!«
Franzi guckte an sich herunter. »Ist klar!« Sie drehte sich. »Der neueste Weihnachtsmarktchic!« Über ihren Jeans trug sie ein dunkelrotes Strickkleid, darüber einen grünen Parka mit Plüschrand an der Kapuze. Braune Strickstulpen ragten aus ihren robusten Lederstiefeln und um den Kopf hatte sie einen grünen Mohair Schal geschlungen, überall guckten ihre feinen, dunklen Locken hervor. Trotzdem sie so dick eingepackt war, erahnte man ihre zierliche Figur. Von der Kälte waren ihre Wangen leicht gerötet und die großen braunen Augen strahlten. - Sie sah aus wie ein Wintermärchen!
Langsam schlenderten Franzi und Martin weiter. Ihr Weg führte sie aus der geschäftigen Innenstadt in ruhigere Straßen. Einige Fenster waren hell erleuchtet und manche auch weihnachtlich geschmückt.
»Guck mal!« Franzi war vor einem Haus stehen geblieben. Durch ein Fenster sah man eine Frau, die eine mintfarbene Wand mit grell pinker Farbe überpinselte. »Krasser Farbwechsel!«
»Die haben wohl einen ganz besonderen Sinn für Farben.«, sagte Martin.
Franzi lachte. »Scheint so!« Sie deutete auf ein weiteres Fenster, in dem man einen Mann mit Schürze beim Bügeln beobachten konnte. »Und dort wohnt jemand mit viel Sinn für Ordnung.«
»Oder für Falten.«
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