»Ho, ho!« Professor Helmer machte Geräusche, als würde er ein temperamentvolles Pferd beruhigen wollen. Langsam ging er zu Carla hinüber und legte seine Hand beschwichtigend auf ihren Arm.
Carla schnaubte und schüttelte angewidert seine Hand ab.
»Na, na, immer mit der Ruhe.« Helmer lächelte gutmütig und blätterte in Carlas Arbeiten. »Mit ihnen bin ich sehr zufrieden, Carla! Sie haben Temperament und dieser Pinselstrich ist wunderbar kraftvoll und mutig.«
Es war zu blöd und sie wollte es nicht, aber sie konnte es nicht verhindern: Sie fühlte sich geschmeichelt.
Ein großformatiges, besonders farbenprächtiges Bild stellte Professor Helmer heraus, um es genauer zu betrachten. »Das ist großartig, so lustvoll!«
Und wieder empfand Carla, gegen ihren Willen, diesen verflixten Stolz.
Professor Helmer kniff die Augen zusammen. »Diese Brüste, die hier hervorquellen.« Er formte die Rundungen mit seinen Händen nach. »Wundervoll zum Greifen nah, sehr natürlich nachempfunden.« Sein Blick wanderte vom Bild zu Carlas Dekolleté.
Der ganze Stolz war futsch. Carla trat einen Schritt zurück und warf ihre langen, schwarzen Haare ärgerlich zurück. »So ein Quatsch! Das sind Hügel in einer abstrakten Landschaft. Sie müssen aber auch in allem etwas Sexuelles sehen!«
»Kindchen, Kunst ist Lust, Genuss, Experiment und immer wieder auch sexuell.«
»Blödsinn! Sie sind einfach ein lüsternes Arschloch!«
Der ganze Kurs hielt den Atem an. Carla hatte bei Helmer ein Stein im Brett, doch wie würde er auf diesen Ausbruch reagieren?
Unglaublicherweise schien Helmer Carla nichts übel zu nehmen. Im Gegenteil, er kicherte, sodass seine ganze schwabbelige Körperhülle vibrierte. »Hui, das nenne ich Leidenschaft! Sie inspirieren mich.« Abrupt wurde sein schnaufendes Gekicher von dem Klingeln seines Handys unterbrochen. Er schaute auf das Display, runzelte die Stirn und machte dann mit seiner freien Hand eine Bewegung, die irgendwo zwischen Verscheuchen und Winken angesiedelt war. Schon das Handy am Ohr rief er ihnen zu: »Schluss für heute, Kinder! Ich muss telefonieren.« Und verschwand eilig im Nebenraum.
Etwas verwundert schauten die Studenten Professor Helmer hinterher, der Kurs hätte eigentlich noch gut eine Viertelstunde dauern sollen. Da sie von ihm jedoch Einiges gewohnt waren, packten sie ihre Mappen ein und wunderten sich nicht länger. Während einer nach dem anderen den Raum verließ, schnaubte und schimpfte Carla noch vor sich hin. »... ich könnte ihn killen, diese eklige Schwabbelbacke!«
Franzi, die ihre Mappe inzwischen verschnürt hatte, versuchte Carla zu besänftigen. »Ach komm, lass dir von dem Idioten doch nichts einreden. Und anrühren würde ich den auch nicht, das wäre echt eklig! – Obwohl? Wenn ich mir das so überlege – er liegt da, angestochen, in einer Blutlache, daneben eine weiße Leinwand ... Doch etwas mit seinem Blut Gemaltes könnte ich mir gut vorstellen.«
Carla lächelte. »Du hast echt eine morbide Fantasie.«
»Wieso? Du hast doch damit angefangen. Wahrscheinlich würde er krepierend mit seinem letzten Atemzug hauchen: Endlich Franzi! Sie inspirieren mich!«
»Wieso sollen wir ihn eigentlich immer inspirieren? Und überhaupt, du hast mehr Talent in deinem kleinen Finger als er in seinem ganzen schwabbeligen Körper!«, sagte Carla.
Franzi machte eine abwehrende Handbewegung. »Nett von dir, aber Quark.«
»Nein, ich meine das wirklich ernst! Wahrscheinlich braucht er die ganze Inspiration, um seine Unfähigkeit zu kompensieren. Apropos ...« Carla hielt einen Moment inne. »Warte ... hm ... ich glaub, jetzt hat er mich inspiriert.« Sie strahlte Franzi an. »Ich werde einen Arschlüster kreieren und ihn irgendwo gut sichtbar aufhängen.«
»Aha!? Und was soll das sein?«
»Eine Mischung aus Arsch und Kronleuchter oder eben Lüster«, sagte Carla, als wäre es die normalste Sache der Welt. Weil Franzi sie weiterhin fragend ansah, erklärte Carla: »Ich modelliere einen Hintern aus Pappmaschee oder so, den häng ich unter einen alten Kronleuchter und dann ...« Gedankenversunken starrte Carla an die Decke und murmelte vor sich hin: »Das wird gut, das wird richtig gut! Ich sehe den riesigen Arsch schon vor mir. Ich werde ...«
Franzi kannte diesen Blick, Carla war bereits dabei, ihre Idee gedanklich umzusetzen. Nichts und niemand würde sie mehr davon abhalten.
Bevor Carla ihre Pläne weiter ausführen konnte, unterbrach Franzi sie: »Das wird auf jeden Fall großartig, mein Schatz. Und ich wette, auch dafür werden sie dich lieben. Aber jetzt lass uns bitte los. Ich muss hier endlich raus.«
»Ja klar, entschuldige! Ich komm gleich.« Carla begann, ihre Kunstwerke zu verstauen. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Hügelbild. »Busen! Wie kommt er nur auf Busen?«
»Helmer ist und bleibt ein Idiot. Und jetzt komm!« Franzi stand schon in der Tür und wartete ungeduldig. »Mann, bin ich froh, dass ich ab morgen auf dem Weihnachtsmarkt stehe und den ganzen Verein hier ne Weile nicht mehr sehen muss.«
»Du hast echt einen Weihnachtsknall!« Carla schulterte ihre voluminöse Mappe. »Na komm, lass uns die Mappen wegbringen und dann lad ich dich zu einem Glühwein auf deinem geliebten Weihnachtsmarkt ein.«
Gebannt schaute Franzi in die bläuliche Flamme über dem riesigen Zuckerhut. Dicke Zuckertropfen fielen zischend in einen großen, glänzenden Kupferkessel und die Mischung aus karamellisierendem Zucker und brennendem Rum verbreitete einen betörenden Duft.
»Mm.« Franzi atmete tief ein.
»Hey, träum nicht. Rück lieber mal ein Stück«, sagte Carla und quetschte sich neben Franzi auf die Bank. Sie pustete in ihren Becher. »Der erste Glühwein ist immer der leckerste. Sag mal, wenn du schon auf dem Weihnachtsmarkt arbeitest, warum dann nicht am Glühweinstand? Das würde doch wenigstens Sinn machen.«
»Habe ich ja anfangs, aber von den Dämpfen hier wird man schon am frühen Morgen high, und dann diese wunderbaren Kostüme ...« Franzis Blick streifte die aufwendig kostümierten Weihnachtselfen hinter dem Tresen.
»Wieso?« Carla lächelte einem männlichen Weihnachtself zu. »Die sind doch niedlich.«
»Na ja, wer´s mag.« Franzi beobachtete, wie der Elf rot wurde und verlegen grinste. »Auf jeden Fall ist man ständig unter Kontrolle, weil der Chef alle naslang schaut, ob alle Zipfelmützen richtig sitzen und dass sich ja keiner am Glühwein vergreift. Dabei kann man den schon nach einem Tag hinterm Tresen nicht mehr riechen. Nee, da ist mir meine Erbsensuppe wirklich lieber.«
»Na dann ...« Carla hob ihren Becher an. »Prost!«
»Genau!«, sagte Franzi und sie ließen ihre Becher gegeneinander scheppern.
Während Carla noch ein bisschen mit dem wirklich ganz schmucken Weihnachtself flirtete, wärmte Franzi ihre Hände am Glühweinbecher und träumte vor sich hin. Sie liebte die Atmosphäre auf dem Weihnachtsmarkt, das glitzernde Leuchten der Lichterketten in der Dämmerung, den Duft von Tannengrün, gebrannten Mandeln, Bratwurst und Kerzenwachs. In das Stimmengewirr mischten sich die etwas blechern, aber fröhlich klingenden Weihnachtslieder vom Kinderkarussell. Hier und da klingelten Glöckchen und irgendwo war ein » Ho Ho Ho!« zu hören. Ihr war so weihnachtsglitzerig wie damals auf dem Münchner Christkindlmarkt. Bilder aus längst vergangenen Tagen entführten sie für einen Moment in eine andere Zeit, an einen anderen Ort ... Franzi seufzte leise und konzentrierte sich schnell wieder auf Carla, die inzwischen von ihrem Kobold abgelassen hatte und ihr jetzt detailliert beschrieb, wie ihr Arschlüster aussehen würde.
Es blieb nicht bei einem Glühwein ... Und Lilly gesellte sich zu ihnen. Sie hatte sich durch die Traube von Menschen gedrängt, die sich mittlerweile vor dem » Feuerzangenbowlenkessel « gebildet hatte. Völlig durchgefroren hauchte sie in ihre Hände. »Hallo ihr beiden. Wieso seid ihr nicht auf irgendeinem kuscheligen Sofa? Wie kann man bei dem Wetter freiwillig rausgehen?« Sie zappelte fröstelnd. »Brr! Ist das verflixt kalt, ich brauch dringend etwas Warmes.«
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