»Oh.« Einen Moment sah er sie ratlos an, dann erhellte sich sein Gesicht. »Da muss etwas geschehen. Warte kurz.« Ohne weitere Erklärung verschwand er in Richtung Tankstelle.
Franzi sah ihm nach. Sie rieb sich die Hände und trippelte von einem Fuß auf den anderen. Warten war keine gute Idee, dachte sie. Es war verdammt kalt geworden. Doch wenige Minuten später änderte sie ihre Meinung: Warten war eine Spitzenidee gewesen!
Der Weihnachtsbaumverkäufer – wie hieß er eigentlich? – kam zurück, beladen mit Milchkaffee und diversen Croissants.
»Süß oder herzhaft?«, fragte er.
»Süß.«, sagte Franzi spontan, zögerte dann aber und floskelte: »Das kann ich doch nicht annehmen.«
»Du kannst.«, sagte er und fügte hinzu: »Ich bekomme Sonderkonditionen, weil der Tankstellenbesitzer ein schlechtes Gewissen hat. Sein Sohn hat mich hierhergelockt und mir weisgemacht, dass das hier ein Spitzenplatz sei. Ich zahle zwar nur eine geringe Miete, aber jeder Cent ist zu viel.«
»Dann vielen Dank!« Franzi biss in ihr süßes, mit Nugat gefülltes Croissant. Zwischen zwei Bissen fragte sie: »Sag mal, wie heißt du eigentlich?«
»Martin, und du?«
»Franzi.«
Für einen Moment begegneten sich ihre Augen, dann konzentrierten sie sich beide wieder, ein bisschen verlegen, auf ihre Croissants.
Schließlich klopfte Franzi sich die Krümel vom Mantel und deutete unvermittelt auf eine besonders schöne Mistel. »Könntest du mir die dort bis heute Abend zurücklegen?«
»Klar. Ich glaub´ zwar nicht, dass ich heute noch einen Ausverkauf befürchten muss, aber auch wenn es einen Riesenansturm gibt, diese Mistel ist für dich reserviert.«
»Prima. Ich glaub´, ich sollte langsam mal los. Vielen Dank für das Frühstück.«
»Gerne.« Im fiel etwas ein. »Warte nur einen Moment.« Mit wenigen Schritten war er an der Beifahrertür seines Transporters. Nervös sah Franzi auf ihre Uhr, langsam saß sie wirklich auf Kohlen. Sie lächelte ziemlich angespannt, während er in seinem Rucksack wühlte und schließlich eine altmodische Blechbrotdose hervorkramte.
»Äh, magst du?« Verlegen drehte er einen riesigen, fladenartigen Keks in seiner Hand. »Das sind die Überlebenskekse meiner Mutter ..., ich weiß, die sehen etwas gewöhnungsbedürftig aus, aber ich dachte ... als Nervennahrung, für deine Prüfung. Oder falls du noch mal Hunger bekommst ...« Einmal angefangen, konnte er nicht aufhören, sich zu verhaspeln. »Und sie schmecken besser als sie aussehen.«
Womit hatte sie so viel Freundlichkeit am frühen Morgen verdient? Franzi war ganz gerührt. »Also ich finde, sie sehen total lecker aus. Und für heute ist mein Überleben auf alle Fälle gesichert.«
Als Martin Franzi den Keks reichte, berührten sich kurz ihre Hände.
»Du brauchst Handschuhe.«
»Ja, stimmt.« Vorsichtig verstaute sie den Müslikeks in ihrer Tasche. »Aber jetzt muss ich wirklich los, sonst schmeiß´ ich mein Studium hin, werde zu einem deiner Tannenbäume und lasse mich rundum versorgen.«
Martin lachte. »Warum nicht?«
»Tja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß ich eigentlich auch nicht. Auf jeden Fall vielen Dank!«
Franzi überflog ihre Klausur, sie war zufrieden, besser hätte es gar nicht laufen können. Sie schaute zum Pult, dort war Professor Kugler fast vollständig hinter seiner Zeitung verschwunden. Völlig in Gedanken begann sie ihn, aus ihrem Gedächtnis zu zeichnen. Seine hohe Stirn, die lange gerade Nase. Oberhalb des rechten Wangenknochens hatte er eine kleine längliche Narbe, die fast vollständig in den Fältchen um seine Augen verschwand, wenn er lächelte. Dann sah man auch seine Zahnlücke zwischen dem rechten, oberen Eckzahn und den Backenzähnen. Franzi knabberte an ihrem kurz gespitzten Bleistift, als Professor Kugler plötzlich seine Zeitung sinken ließ. »Noch 10 Minuten.«, sagte er und war schon wieder hinter der Zeitung verschwunden. Erschrocken sah Franzi auf ihre Zeichnung, faltete sie schnell zusammen und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden. Sie könnte noch einmal alles in Ruhe durchlesen, doch wozu? Sie sortierte ihre Zettel und gab dann ihre Arbeit ab. Leise, um die anderen nicht zu stören, packte sie ihre Sachen zusammen. Sie war eine der Letzten, nur fünf Kommilitonen saßen noch im Raum. Eine von ihnen war Carla, die jetzt hektisch ihre Arbeit zusammenschob, ihre Thermoskanne in die Tasche stopfte und sich ihren Mantel unter den Arm klemmte. Im Vorbeigehen legte sie ihre Klausur auf das Pult und eilte hinter Franzi her. »Warte Franzi, kommst du mit in die Cafeteria?«
»Pscht!« Vorsichtig schloss Franzi die Tür hinter ihrer Freundin und wartete auf sie. Carla hatte ihre Tasche und ihren Mantel vor der Tür fallengelassen und kramte jetzt in aller Seelenruhe Mütze, Schal und einen Apfel hervor. Carla biss von ihrem Apfel ab und fragte dann kauend: »Hat dein Weihnatschwanschinn eigentlisch schon angefangen?« Franzi wischte sich über die Stirn. »Nee, aber beiß´ ruhig noch mal ab! Ich liebe Apfelmus in meinem Gesicht.«
»Oh ´schuldige, aber ich hatte kein Frühstück.«
»Ich auch nicht, oder doch, ach erzähl´ ich dir gleich. Lass´ uns in die Cafeteria gehen. Der Weihnachtsmarkt geht für mich übrigens erst übermorgen los. Morgen habe ich noch Malerei bei Professor Helmer.«
Carla schüttelte sich. »Igitt! Ich auch. Musst du mich daran erinnern? Das hatte ich so schön verdrängt.«
Franzi lachte. »Genau, igitt. Du hast vollkommen recht. Aber es ist ja das letzte Mal vor den Ferien und ab Freitag bin ich dann jeden Tag auf den Weihnachtsmarkt.«
»Jeden Tag? Bist du wahnsinnig?«
»Ich brauch´ die Kohle. Außerdem freue ich mich auch irgendwie darauf.«
»Sag´ ich ja, du bist wahnsinnig.«
»Genau.«, sagte Franzi. »Ach ja, nur montags lass´ ich mich vertreten für den Porträtkurs bei Professor Kugler.«
»Das will ich doch hoffen, dass sie in meinen Kurs kommen.«, sagte Professor Kugler, der unbemerkt hinter sie getreten war.
»Oh!« Franzi drehte sich zu ihm um und wurde rot.
Er schloss die Tür ab und wandte sich wieder den beiden zu. »Na, wie ist es bei ihnen gelaufen? Franka – nein Entschuldigung, Franziska, nicht wahr? – Ihnen müsste das Thema doch gelegen haben.«
Franzi wurde noch röter und murmelte: »Ja, ich denke schon, dass es ganz gut gelaufen ist.«
»Schön.« Er strich seinen grau melierten, etwas zu langen Pony zurück. »Und bei Ihnen, Carla?«
»Ganz fantastisch.«, sagte Carla, ohne eine Miene zu verziehen.
Professor Kugler lächelte. »Sehr schön. Ich würde ja zu gerne mit Ihnen beiden einen Kaffee trinken gehen, doch leider muss ich in mein Seminar.«
Carla zuckte mit den Schultern. »Tja, da kann man nichts machen.« Sie packte Franzi am Arm und zog sie mit sich. »Wir müssen dann jetzt auch los.«
»Vielleicht ein anderes Mal?« rief er ihnen nach.
»Ja, vielleicht.«, sagte Carla unbestimmt im Gehen über die Schulter. Nur wenige Schritte weiter und nur unwesentlich leiser fügte sie hinzu: »Schleimscheißer!«
Franzi machte sich los. »Pst! Wenn er dich hört. Er war doch einfach nur nett. Und überhaupt ich mag ihn.«
»Na, das war ja nicht zu übersehen.«
»Hrmpf!« Hätte Franzi noch röter werden können, wäre sie es sicherlich geworden. »Quatsch! Ich finde einfach, er ist hier einer der wenigen, die wirklich etwas können.«
Carla verdrehte die Augen. »Ach, was kann er denn? Okay, auf seine spezielle, schleimige Art kann er ganz charmant sein. Er sieht ... na ja, für sein Alter relativ gut aus. Und stimmt! Zugegebenermaßen baggert er wie ein Weltmeister.«
Ehrlich entrüstet, schnaubte Franzi regelrecht. »Hast du mal seine Illustrationen gesehen? Die sind großartig!«
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