Die Klausur würde sich um die Malerei der Jahrhundertwende drehen, Stilrichtungen, Einflüsse, Maler und so weiter. Sie mochte die Epoche; einige ihrer Lieblingskünstler hatten ihre Werke zu dieser Zeit geschaffen. Eigentlich hätte ich als Künstlerin auch besser in jene Zeit gepasst, dachte Franzi. Sie seufzte. Ein Professor hatte ihr wiederholt zu verstehen gegeben, dass er sie schlicht gar nicht für eine Künstlerin hielt.
Den Gedanken versuchte sie schnell wieder zu verdrängen. Jetzt ging es erst mal um die Kunstgeschichte, und auf diesem Terrain fühlte sie sich relativ sicher.
Auch im Bad war es schweinekalt. Bibbernd packte Franzi an den Heizkörper. Das dauerte morgens immer eine Ewigkeit, bis der warm wurde. Entweder manipulierte jemand an der Therme, zuzutrauen wäre es dem ein oder anderen Spezialisten, oder – schrecklicher Gedanke – die altersmüde Heizungsanlage schwächelte schon wieder.
Nach eiskalter Katzenwäsche zog sie über Jeans und Pulli noch ein Wollkleid und machte sich auf den Weg in die Küche. Vielleicht hat Felix schon Kaffee gekocht, hoffte Franzi. Sie hatte völlig verdrängt, dass er sich ein paar Tage freigenommen hatte.
Sie schnupperte. »Bah!« Das roch ganz und gar nicht nach frischem Kaffee, sondern nach kaltem Rauch. Bert war mal wieder zu bequem gewesen, auf den Balkon zu gehen, und Felix hatte nicht den Arsch in der Hose gehabt, ihm zu sagen, dass in der Küche nicht geraucht werden sollte. Oder es war ihm egal gewesen. Angesäuert öffnete Franzi die Küchentür. Es klirrte und eine Flasche, aus der ein Rest Wein tropfte, rollte ihr entgegen. Sie bückte sich, um die Flasche aufzuheben, und als sie sich wieder aufrichtete, sah sie das Chaos.
Ungläubig wanderte ihr Blick durch die Küche. Das konnte doch echt nicht wahr sein! Der Tisch war voll mit leeren Bierflaschen, Kronkorken, Tabakkrümeln und – igitt! verkrusteten Senfklecksen. Teller mit Essensresten und Dingen, die Franzi gar nicht genauer analysieren wollte, standen auf der Arbeitsfläche. In einem Topf schwamm ein aufgeplatztes Würstchen und in der Spüle – war ja klar – lagen ausgedrückte Kippen. Es sah aus wie nach einem echt fiesen Gelage. Wie konnten drei Mann nur so einen Saustall veranstalten?
Franzi räumte ein paar Flaschen vom Tisch, hielt dann aber inne. Das fehlte noch, dass sie hier aufräumte. Mann! Er wusste doch, dass ich heute eine Klausur schreibe, dachte Franzi. Sie war sauer, irgendwie auch traurig, enttäuscht und vor allem – langsam kam wieder Leben in sie – verdammt wütend. Und ihre Wut paarte sich allmählich gefährlich mit Hunger.
Auf der Suche nach etwas Essbarem blieb ihr Blick an dem kleinen Engelorchester aus dem Erzgebirge hängen und sie musste, gegen ihren Willen, schmunzeln.
Die »Nacktarschkombo«, wie Felix sie liebevoll getauft hatte, spielte jetzt auf kunstvoll zu einer Pyramide gestapelten Gewürzdosen.
Die drei hatten nicht nur rumgesaut und Chaos fabriziert, sie hatten auch umdekoriert. Sämtliche Weihnachtsutensilien hatten einen neuen Platz bekommen. An dem Kronleuchter hingen neben Kellen, Schneebesen, Bratenwendern und anderen Küchenfreunden, gläserne Eiszapfen. Die Gardine hatten sie mit dem Saum am Küchenschrank befestigt, sodass sie jetzt einem Plüschelch als Hängematte diente. Auf der anderen Seite der Gardinenstange seilte sich ein Engel an einer Sternenkette ab und ... Eigentlich war das alles ganz originell, aber Franzis Sinn für Originelles hielt sich im Moment arg in Grenzen. Sie brauchte dringend ein Frühstück und im Brotkasten war kein Fitzelchen Brot mehr.
Als sie auf Zehenspitzen im obersten Fach des Küchenbüfetts nach Knäckebrot Reserven suchte, trat sie mit ihrem Sockfuß in etwas eklig Klebriges.
»Ih!« Angewidert betrachtet sie die braunrote, zähe Masse und sah dann die halb leere, offene Ketchupflasche auf dem Kühlschrank stehen. Da hatte jemand den Ketchup – ohne Deckel – kräftig durchgeschüttelt. In einem Halbkreis um den Kühlschrank waren Sprenkel auf dem Küchenboden verteilt. Wütend knallte Franzi erst den Brotkasten, dann die Schranktür zu. Knäckebrot war auch keins mehr da. Blieb ihr nur Müsli, was sie noch nie sonderlich gemocht hatte.
Ihr lautstarkes, wütendes Geklapper musste Felix geweckt haben. Er hatte im Wohnzimmer nebenan auf dem Sofa geschlafen und kam völlig verschlafen in die Küche geschlurft. »Was machst du denn für einen Krach?« Er blinzelte auf die Küchenuhr. »Und wieso bist du überhaupt schon wach?«
Franzi, die dabei war sich eine Schale abzuwaschen – saubere gab es natürlich nicht mehr – drehte sich, mit der Abwaschbürste in der Hand, abrupt um und starrte ihn nur schweigend an.
»Hey! Du spritzt! Was ‘n los? Bist du sauer?«
»Was für eine Frage.« Franzi schnaubte. »Sieh dich doch mal um. Zu Essen ist nichts mehr da, es stinkt nach Rauch und ...« Sie hielt inne und sah sich Felix genauer an. Er hatte Weihnachtskugeln über den Ohren hängen und diverse rote Schleifen im Haar. In eine Schleife hatten sie ihm einen kleinen Tannenzweig gebunden und ... Sie spürte das sie, gegen ihren Willen, grinsen musste. Aber das kam gar nicht in Frage! Ich muss hier raus, dachte sie und schmiss die Abwaschbürste ins Waschbecken. Sie schob Felix zur Seite, stiefelte in ihr Zimmer und holte ihre Sachen. Während sie sich anzog, versuchte Felix sie zu beschwichtigen. »Aber Franzi, sei doch nicht so sauer, ich ...«
»Nichts aber Franzi!« Sie wühlte in den Klamotten, die auf dem Garderobenstuhl lagen. »Verdammt, wo ist sie denn schon wieder?«
Kommentarlos reichte Felix ihr eine rot/grün geringelte Mütze.
»Danke.«
Sie sahen sich an. Franzi wollte etwas sagen, ließ es dann aber doch bleiben. Schließlich wickelte sie sich ihren Schal um und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Im Hausflur stand sie allerdings erst mal ratlos da. »Mist!« – Was für eine blöde Übersprungshandlung. Wütend schleuderte sie sich ihre Tasche über die Schulter. »Au!« Es fühlte sich an, als würde sie sich die Schulter auskugeln. Wieso hatte sie da bloß so viel reingepackt? So ein Blödsinn! Ihr Magen machte sich lautstark bemerkbar. Ich brauche dringend ein Frühstück, wie soll ich denn sonst die Klausur durchstehen? Zu allem Überfluss stellte sie fest, dass sie mal wieder ihre Handschuhe vergessen hatte. Sie vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen und trat auf den Bürgersteig.
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hatte der Weihnachtsbaumverkäufer Franzi entdeckt und grüßte sie freundlich. Missmutig wie Franzi war, konnte sie sich gerade noch dazu durchringen, ihm zuzunicken.
Mit seiner Dogger-Mütze und seinem dunkelblauen Troyer sah er aus wie einer der Hipster, die an der Uni rudelweise rumliefen. Sie war sich allerdings ziemlich sicher, dass er die Kleidung aus praktischen und nicht aus modischen Gründen gewählt hatte.
Seit einer Woche stand er mit seinen Bäumen bereits dort, aber erst jetzt fiel Franzi auf, wie selten dämlich der Platz für einen Weihnachtsbaumverkauf war. Zwischen Tankstelle und Schnellreinigung, in einem Viertel mit nur wenigen, heruntergekommenen Wohnhäusern. Hier wohnten vorwiegend Studenten, Künstler und ein paar Rentner, von denen konnte sicher kaum einer viel Geld für einen Weihnachtsbaum erübrigen. Dabei hatte er wirklich schöne Bäume und riesige wunderschöne Mistelzweige. Bisher hatte Franzi sie jeden Morgen bewundert.
»Ärger gehabt?«, fragte der Weihnachtsbaumverkäufer. »Das ist der erste Morgen, an dem du nicht lächelst.«
Jetzt lächelte Franzi doch. »Ich habe so einen Hunger, dass er meine gute Laune aufgefressen hat.«
»Das kann ich gut verstehen, ich habe auch noch nicht so richtig gefrühstückt.«, sagte er.
»Ich noch nicht mal unrichtig! Und zudem habe ich«, sie schaute auf ihre Armbanduhr, »in gut einer Stunde eine wichtige Prüfung.«
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