Marie war diejenige gewesen, die "Blacksmith" eine neue Richtung gegeben hatte.
"Blacksmith" produzierte bislang nur Geräte für die Gartenarbeit und eben Schmiedeerzeugnisse.
Sie war rebellisch, ruhelos, aufbrausend, aber absolut überzeugend.
"Wie wird die Welt 2030 sein" hatte sie ihre Eltern und Allan einmal unvermittelt gefragt.
"Na sie wird sich wohl technisch verändert haben, aber es wird die alte Welt sein, vielleicht etwas voller mit Menschen und mehr verschmutzt" hatte ihr Vater geantwortet.
Marie hatte nur höhnisch gelacht.
"Mama?"
"Wir sitzen im Flugtaxi, und das bringt uns automatisch irgendwo hin."
"Allan?"
Allan hasste diese dominanten Auftritte seiner Schwester.
Sie beherrschte die Firma, sie beherrschte die Familie.
Sie war eine Frau mit Eis in den Adern, vielen leistungsstarken Prozessoren im Kopf, und einer ständig anwachsenden Datenbank, aus der sie nach Belieben und Bedarf Fakten abrief, die sie dann in absolut logischen Erklärungen verarbeitete.
"Wir werden ganz neue Technologien haben" sagte er.
"Welche?"
"Na die Kernfusion für die Energieerzeugung, neue Fertigungsverfahren durch Umformen, schadstofffreie Antriebe."
"Kann sein. Aber das ist es nicht."
Sie schwieg kurz, dann dozierte sie.
"Allerspätestens 2030 ist China die wirtschaftlich, technisch-technologisch und militärisch dominierende Großmacht. Den Chinesen ist es vollkommen schnuppe, ob sie bis dahin die Umwelt ruiniert haben oder dass sich einer der Bürger dort irgendwie diskriminiert fühlen könnte. Spielt keine Rolle. Das Ziel ist die Weltherrschaft. Die werden den Weltraum besiedeln. Die werden Dinge schaffen, die für uns unvorstellbar sind. Die wollen nach oben kommen, und das werden sie schaffen. Die sind noch nicht so Wohlstands satt wie wir, oder wie die Europäer."
"Ja und" hatte ihr Vater entgegnet "was hat das mit uns zu tun?"
"Einiges. "Blacksmith" ist eine Gartenklitsche, mehr nicht. Ich würde was anderes daraus machen."
"Und was?"
"Eine Technologiefirma."
"Ja sicher, nichts einfacher als das" hatte Allan erwidert "da verfügen wir ja über beste Kenntnisse und Möglichkeiten."
"Du bist gedanklich im Mittelalter stehengeblieben" war Maries kalte Antwort gewesen "ihr produziert wie unsere Urgroßväter. Mit hinterwäldlerischeren Methoden. Da gibt es keine gleichbleibende Qualität, keine Automatisierung, keine Ausrichtung auf die Zukunft."
"Es reicht jetzt Marie" war ihre Mutter laut geworden "unsere Vorfahren haben das Unternehmen gegründet, es groß gemacht, es aus der Krise wieder rausgeholt, und du hast davon profitiert. Sehr profitiert. Du hast studieren können, ohne einen Kredit aufnehmen zu müssen. Das haben dein Vater und ich bezahlt. Ohne ein Wenn und Aber. Weil wir wussten, dass wir in eure Zukunft investieren. In eure, nicht in unsere. So sollte es doch sein, oder? Und du stellst dich hin, machst die Arbeit deines Bruders verächtlich und weißt alles immer besser. Mag sein, dass du klüger als wir bist, aber das gibt dir kein Recht, hier deine Weisheiten für einzig richtig zu erklären."
"Es tut mir leid Mutter" hatte Marie eingeräumt "es ist nur meine Ungeduld. Ich kucke mir bei uns im Labor jeden Tag die Proben für die Kunststofffertigung an. Es ist jeden Tag dasselbe, das könnte auch eine Maschine erledigen. Es ist langweilig, stinklangweilig. Also habe ich mir Gedanken gemacht, ob "Blacksmith" nicht etwas auf die Beine stellen könnte, was Zukunftspotential hat. Ich habe vorhin nicht umsonst über die Rolle von China gesprochen. Glaubt ihr, dass unsere Regierung das tatenlos hinnehmen wird? Oder Russland? Sicher nicht. Und wenn man ein Stückchen weiterdenkt kann das bedeuten, dass das Militär noch mehr Macht bekommen wird. Bei denen, und auch bei uns. Natürlich sind alle dabei ihre Waffensysteme möglichst autark zu gestalten. Drohnen, Kampfroboter. Informiert euch mal über Boston Dynamics. Das ist hochinteressant."
"Da sind wir mit unserem Know-How über Gartenscheren sicher nah dran an deren Produkten" hatte ihr Vater gespottet "bewaffnet mit einer Hacke von uns sind die Roboter sicher unschlagbar."
"Nein Vater, hör bitte zu. Ich schaue oft im Internet auf eine Seite, wo Pleitefirmen ihren Maschinenpark versteigern. Seit ein paar Tagen ist ein Textilien Hersteller dabei."
"Ja und" fragte Allan "was soll uns das nützen, damit haben wir doch gar nichts am Hut."
"Stimmt, aber ich habe da so eine Idee."
Marie erklärte dann was sie meinte.
Erst erntete sie großes Erstaunen, dann trat Verblüffung ein, und letztlich der Gedanke, dass an der Sache etwas dran sein könnte.
Da die Familie Alleineigentümer von "Blacksmith" war konnten sie frei entscheiden.
Nach einer Bedenkzeit von drei Tagen entschied Maries und Allans Vater, neben den Fertigungshallen für die Gartenprodukte ein kleines Gebäude für ein Versuchslabor aufstellen zu lassen.
Es sollte schnell absolut unaufwändig errichtet, aber schon mit Sicherungsanlagen versehen und eingezäunt werden.
Gleichzeitig gab er Stellenanzeigen für Textilingenieure, IT-Leute und einen Ergonomen auf.
Sollte das Projekt in die passende Richtung laufen, würde man weitersehen.
Scheiterte es, könnte man die befristeten Arbeitsverträge schnell auflösen, und die eine Halle irgendwie anders nutzen.
Im letzten halben Jahr hatte er sichtbar an Muskelmasse zugelegt und war sogar noch etwas gewachsen. Er war jetzt ein Meter einundsiebzig groß und wog 72 Kilogramm. Auch sein Äußeres hatte sich verwandelt. Er hatte sich die Haare wachsen lassen. Seine gekräuselten und gelockten Haare erinnerten ein wenig an die Frisur von Jimi Hendrik, wobei der Junge die Haare deutlich länger trug, denn sie fielen ihm bis auf die Schultern. Wäre er blond gewesen, hätte man ihn in dieser Hinsicht mit Robert Plant von "Led Zeppelin" vergleichen können. Diese Ähnlichkeit war von ihm nicht gewollt gewesen, sie hatte sich rein zufällig ergeben. Außerdem interessierte er sich für Musik aus der Vergangenheit nicht sonderlich, nur sein Vater sprach manchmal darüber.
In der Klasse versuchte er nicht anzuecken und möglichst nicht auf Provokationen einzugehen. Woher die Abneigung verschiedener Leute ihm gegenüber herkam konnte er sich überhaupt nicht erklären, denn er versuchte schon aus Gründen des Selbstschutzes niemandem auf die Füße zu treten. Erst etliche Jahre später hatte er eine Erklärung gefunden, warum man ihn so mies behandelt hatte. Die anderen wussten ziemlich genau, wo sie ihn packen konnten. Es waren seine Sprechprobleme.
Dabei stotterte er nicht mehr so viel.
Es war auch ein großer Unterschied, mit wem er sprach.
Wenn er sich mit Louis unterhielt redete er absolut flüssig.
Auch mit Katie.
Sie war in der neunten Klasse, und er hatte ein Auge auf sie geworfen.
Das Mädchen war zierlich und schlank, hatte lange Haare und ein ebenmäßiges Gesicht, mit großen, immer wie staunend wirkenden dunkelbraunen Augen.
Er hatte sich ein Herz gefasst, und sie hatte seine Einladung ins Kino nicht ausgeschlagen.
Er war noch sehr schüchtern und vermied, sie körperlich irgendwie zu bedrängen.
Das schien sie zu honorieren und nach einem Besuch bei Mc Donalds küsste sie ihn zum Abschied.
Der Clique in seiner Klasse war nicht entgangen, dass er eine Freundin hatte.
"Gleich und gleich gesellt sich gern, nicht wahr, du stinkender Halbnigger. War ja klar, dass für dich keine Weiße rausspringen wird" hatte Mc Allister bösartig gesagt "riecht die auch so streng wie du? So zwischen den Beinen?"
Der Junge hatte sofort zugeschlagen, aber war dann von dem kräftigen Brody heftig verprügelt worden.
Bei dieser einen körperlichen Attacke war es geblieben, aber die fünf jungen Männer setzten ihn weiter mit allen möglichen Mitteln unter Druck.
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