Josh sprang auf und legte los. Er schrumpfte und wuchs, während er wahllos Gegenstände erschuf und wieder verschwinden ließ. Als er keine Lust mehr hatte, setzte er sich wieder.
„Eigentlich gehören noch Teleportationsübungen dazu, aber die kann ich dir hier nicht zeigen. Jedenfalls wurde ich gedrillt, bis ich das alles perfekt drauf hatte. Kotzlangweilig, ich war die ganze Zeit total genervt, aber jetzt kann ich das wenigstens alles.
Als ich da endlich wieder weg durfte, habe ich mich sofort auf die Socken gemacht, das Universum erkunden und so. Ich war gerade mit ein paar Leuten zusammen und hab Party gemacht, da kam Renko dazu. Dieser große rote Typ fällt eh auf, aber dass er nicht spricht, macht ihn natürlich erst recht sonderbar und auffällig. Das war mir sympathisch.”
„Wie, er spricht nicht – wie kommt das?”
„Ach, das hab ich ja noch gar nicht erzählt. Ja, Renko spricht nicht. Keine Ahnung warum, so ist er eben. Wenn man ihn danach fragt, zuckt er nur mit den Schultern. Er könnte, wenn er wollte, soviel gibt er nickend zu, das war's aber auch schon. Und du?”, wechselte Josh das leidige Thema. „Wie bist du ein Cyborg geworden?”
Amanda seufzte und erzählte ihm alles, was sie darüber wusste. Über die Zeit im Labor, über das Training, das eigentlich Spaß gemacht hatte, aber nicht das war, was sie mit ihrem Leben hätte machen wollen, über die Zusatzausbildung zum Bodyguard, über den Job, den sie langweilig und erniedrigend fand und über das Konglomerat, das überwiegend unsichtbar und unauffällig die gesamte Gesellschaft im Griff hatte. Alles nicht schlimm und sie sollte vielleicht dankbar sein, am Leben zu sein, aber es fühlte sich nicht nach Leben an, deshalb war sie es nicht.
Unter der Kontrolle des Konglomerats zu stehen, gab ihr ein ungutes Gefühl, obwohl sie bisher keinen Grund gehabt hatte, sich zu beklagen. Allein den Gedanken, dass sie theoretisch Macht über sie hatten und über ihr Leben bestimmen konnten, fand sie unerträglich. Josh konnte das nachvollziehen und nickte nur.
„Über den Auftrag, die Dolbs zu entführen, bin ich fast froh. Das gibt mir endlich einen echten Grund aus dem Teufelskreis auszubrechen”, sagte sie schließlich. „Aber die Konsequenzen sind grässlich. Ich wünschte, ich hätte eher die Kurve gekriegt, dann wäre das alles nicht passiert.”
„Dann wäre es dir nicht passiert, stimmt schon, aber dann hätten sie jemand anders losgeschickt, der es vielleicht einfach gemacht hätte, ohne es zu hinterfragen. Dann hätten die Dolbs jetzt ein viel größeres Problem. Alles in allem also doch ganz gut, dass ausgerechnet du diesen Auftrag gekriegt hast.”
„Verdrehst du die Realität immer so, wie es dir in den Kram passt und sich gut anhört?”
„Ich verdrehe doch gar nichts. Es ist nur ein zusätzlicher Blickwinkel, das ist alles. Klar, man kann sich auf das konzentrieren, was an einer Situation grauenvoll ist, man kann sich aber auch überlegen, wozu etwas gut sein könnte. Ich finde es tröstlich, wenn ich mich auf den positiven Aspekt konzentriere. Dann bin ich entspannter und kann besser entscheiden, wie ich damit umgehen will. Alles hat zwei Seiten.”
„Blödsinn. Gewalt und Unterdrückung haben keine zwei Seiten, die sind schrecklich, ohne Diskussion. Diktaturen sind ein Horror, was soll daran gut sein?”
„Du drehst mir das Wort im Mund rum. Natürlich ist nicht ‚alles gut‘ als solches, aber wenn man zu verstehen versucht, wie beispielsweise Diktaturen entstehen und warum, dann kapiert man eine Menge über den Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit und dem nach Sicherheit, über die Macht von Bedürfnissen. Was sie anrichten können und so, wenn man nicht aufpasst. Es reicht nicht, die Schuld auf eine Handvoll Bösewichte zu schieben und gut. Zumindest mir nicht.”
„Mag sein, aber für so eine Analyse habe ich gerade keine Zeit, mir sitzt nämlich konkret eine Diktatur im Nacken, ganz egal wie sie entstanden ist.”
Josh zuckte die Schultern und grinste Amanda an. „Wir finden eine Lösung, keine Sorge, und wir geben uns Mühe, eine zu finden, die allen hilft. Vielleicht stürzen wir dabei sogar aus Versehen eine Diktatur, wer weiß? Irgendwo müssen wir anfangen, der Rest findet sich.”
„Ja, oder wir sterben bei dem Versuch.” Amanda rollte die Augen und zog eine Grimasse.
„Ach, sterben müssen wir doch alle früher oder später, Mann. Das Leben an sich geht weiter.”
„Bitte was?! Findest du den Gedanken etwa tröstlich?”
„Ja, du nicht?”
„Nö.”
Nachdenklich starrten sie in die Flammen und Josh dachte automatisch wieder an Renko. Egal, wie Amanda das sah, für Josh würde auch das früher oder später einen Sinn ergeben, für irgendetwas würde es sich als gut erweisen, selbst wenn es ihm gerade nur tierisch auf die Nerven ging und er keine Ahnung hatte, was das alles sollte. Er vermisste seinen Freund, aber das half ja nichts. Er konnte nur hoffen, dass sie das bald überstanden hatten. Ob dann alles so werden würde wie vorher? Vermutlich nicht. Einschneidende Erlebnisse veränderten die Dinge üblicherweise. So oder so, Josh war gespannt, was am Ende bei der ganzen Sache rauskommen würde.
In der Wildsau passierte nicht viel. Es dauerte drei Tage, aber endlich hatte Adasger sie fertig aufgeräumt und blitzsauber geschrubbt. Er hatte nichts mehr zu tun und sah sich um. Eigentlich mochte er Kneipen gar nicht. Sie waren ein geselliger Ort, aber ihn störte, dass Alkohol so ein zentraler Faktor war. Es war zwar angenehm, ab und zu mal ein wenig oder auch ein wenig mehr zu trinken, aber auf Dauer von dieser Atmosphäre umgeben zu sein, fühlte sich nicht gut an. Der ganze Raum schrie förmlich permanent ‚Alkohol‘. Er musste nicht lange überlegen und räumte kurzentschlossen die Flaschen über der Theke weg.
Außerdem mochte er Bücher. Er kramte in den ungenutzten Räumen der Wildsau, fand ein Bücherregal, stellte es neben den Kamin und füllte es mit passender Lektüre. Na, das sah doch schon viel besser aus.
Dann fiel sein Blick auf die Trophäe der Wildsau, die immer noch über der Theke hing, ohne Jörgen toter als tot. Die neue KI dazu zu ermuntern, ab und zu die Augen leuchten zu lassen, fühlte sich falsch an. Es war an der Zeit, diese Erinnerung ebenfalls verschwinden zu lassen, das Leben ging weiter. Mögen Jörgen und das arme Tier, das als Blickfänger hatte herhalten müssen, nun in Frieden ruhen. Adasger nahm die Trophäe ab und ersetzte sie durch eine impressionistische Skulptur aus Bronze, die jemand mal angeschleppt hatte: Sie zeigte den Kopf einer durch die Wand brechenden Wildsau mit irrem Blick.
Er machte sich einen Kaffee, sah sich um und war vorläufig zufrieden. Noch nicht ganz ideal, aber ein Anfang. Er suchte im Regal nach einem guten Buch und machte es sich auf dem Sofa bequem. Borowski lag schlafend auf Renkos T–Shirt, im Kamin prasselte – wie immer – ein Feuer.
Renko sah den Drachen zurückkehren und war hin und weg von dem Anblick. Als dieser wieder halb im Meer lag, sah er so aus wie vorher: nur ein Felsen, auf den die Brandung krachte. Renko hätte ihn sich gerne aus der Nähe angesehen, aber er war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.
Amanda war immer noch geistig abwesend. Langsam fing Renko an sich zu fragen, ob er sie vielleicht mal anstubsen sollte, aber er selbst hasste es, wenn er tief in Gedanken war und dabei gestört wurde, also ließ er es bleiben.
Er sah wieder den Drachen an. Ach, warum eigentlich nicht. Renko stand auf und schlenderte langsam auf ihn zu. Was sollte ihm schon passieren? Feuer konnte ihm nichts anhaben. Der Drache könnte zwar angreifen und versuchen ihn zu fressen, aber notfalls könnte sich Renko einfach wegteleportieren.
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