1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Plötzlich unterbrach er diese Gedanken, weil er hoffte, dadurch einen anderen klarer zu erkennen, der sich gerade tief in seinem Gehirn kristallisierte. Er wusste, dass dieser Gedanke wichtig war und er ihn nicht verrinnen lassen durfte, bevor er ihn deutlicher vor sich sah. Woran hatte er zuvor gedacht? Neujahr, Chicago, Emo-Kino, Science-Fiction-Filme... Fantasie!
War es die Fantasie, die mit seiner undeutlichen Erkenntnis zu tun hatte? Nein. Aber was war es? Emo-Kino... Beruhigungswellen-Emitter...Isodol? Das war es: Isodol-Vier! Das neueste Produkt aus dem Hause Nixon-Pharma – Mach' Nächte durch und trink' viel Bier, wenn eins dir hilft: Isodol-Vier!
Arnold war sich jetzt sicher. Isodol-Vier hatte eine ähnliche Wirkung wie die Beruhigungswellen-Emitter in den Emo-Kinos: Sie hemmten die Fantasie und dämpften sogar starke Schmerzen. Seine Ideen hatte er seiner Fantasie zu verdanken, davon war er überzeugt. Deswegen wollte Arnold es sich nicht erlauben, dass etwas seine Fantasie dämpfte. Seine Vorlesungen wären dann exakt der fade Unterrichtsbrei, den die Zentrale für alle Universitäten genormt hatte. Arnold hielt große Stücke auf die Art, wie er unterrichtete. Besonders, wenn er auf manche Fragen der Studenten „kreative“ Antworten gab.
Das sorgte fast immer für heitere Vorlesungen und seinen Studenten gefiel das. Es war nicht das übliche Lachen aus Höflichkeit oder Verlegenheit gegenüber einem Professor, die Studenten lachten ganz entspannt und aus freien Stücken. So wurde Arnold beliebt bei seinen Studenten. Er war sich sicher, dass sich seine Vorlesungen besser einprägten, wenn die Studenten dabei viel lachten. Er hatte auch von Professoren gehört, die das mit viel Isodol im Hörsaal erreichten, aber das war für Arnold wie künstliche Heiterkeit auf Knopfdruck. Vielleicht schaffte er es seine persönliche Lehrmethode zum Standard künftiger Normen werden zu lassen. Arnold musste sie wahrscheinlich nur oft genug wiederholen. Doch auch diese Meinung behielt er für sich, denn: Z weiundsechzigtausendvierhundert Wiederholungen ergeben eine Wahrheit! Daran zweifelte selbst er nicht. Er musste nur beharrlich bleiben. Und er war sich sicher, dass er keine seiner kreativen Ideen im Unterricht jemals in einem Isodol-Zwei- oder Isodol-Vier-Rausch bekommen hatte, denn er war er immer nüchtern im Hörsaal.
Seine eigene Art zu unterrichten betrachtete Arnold lediglich als nützliches Werkzeug, um die genormten großen Wahrheiten besser zu vermitteln. Genauer betrachtet, hätte man sie aber schon als leichte Normabweichung bezeichnen können. Doch auch mancher Weltratspräsident , WRP genannt, soll schon vieldeutige Witze gemacht haben, die nur wenige andere Ohren gehört hatten. Man sprach in höheren Kreisen, dann entschuldigend, von „kleinen Wahrheiten“. Solche Abweichungen von der Norm waren damit offiziell gerechtfertigt. Der Begriff „kleine Wahrheiten“ war also der inoffizielle Befehl eine Äußerung oder sogar einen Vorfall augenzwinkernd zu vergessen. Bei Einsern wurde dies, sofern es nicht zu oft vorkam, toleriert. Nicht aber bei Zweiern oder gar den niederen Kasten. Es wäre nicht sehr logisch, dass neben den großen Wahrheiten gleichzeitig auch kleine Wahrheiten existierten. Es wäre ein Widerspruch. Dann musste auch das Erzählen von unorthodoxen Witzen, wie es der Weltratspräsident manchmal tat, ein kleiner Ausbruch von Fantasie sein. Wenn dem so sei, dann wäre dies eine weitere unglaubliche Erkenntnis, die Arnold sich niemals trauen durfte mit jemandem zu teilen.
Arnold fand sich im Aufzug wieder, der nach unten fuhr. Davor hatte er den Aufzug verlassen und war einige hundert Meter auf der die Spazierrunde der Promenaden-Plattform auf dem Dach des Wohnkomplexes gegangen. Er war durch seine Gedanken so abgelenkt, dass er sich an den Weg kaum noch erinnerte. Danach hatte er sich ohne nachzudenken auf den Weg zur Universität gemacht. Seine Aktentasche hatte er bereits unter dem Arm, als der Aufzug unten ankam. Die tägliche Routine hatte es überflüssig gemacht, dass er mit seinem Smart-Pad in der Uni anrief und ihnen dort eine Ausrede auftischte, warum er heute krank sei. Wenn Arnold sich nicht gut fühlte fuhr er vor der Arbeit automatisch nach auf das Dach des Porsche-Hochhauses und ging ein paar Meter. Sein Kopf war durch die vielen Gedanken an diesem Morgen und den Spaziergang wieder völlig klar geworden, und er freute sich auf die Vorlesungen. Nur ein Frühstück müsste er sich nach der ersten Vorlesung noch dringend besorgen. Wie konnten bloße Gedanken eine so aufputschende Wirkung besitzen, ähnlich wie es Isodol-Vier nach dem Schlucken für kurze Zeit bewirkte? Und dabei dämpften diese Gedanken nicht wie jenes Isodol nach einer weiteren Viertelstunde die Fantasie. Das war natürlich viel besser, denn Arnold legte ja großen Wert darauf, seine Kreativität nicht zu vernebeln.
Arnolds Smart-Pad piepte leise am Handgelenk. Es war die Erinnerung, dass seine U-Bahn in zwei Minuten einlief. Überflüssig, denn er betrat gerade den Bahnsteig. Nach diesem Feiertag waren hier noch viel weniger Menschen als sonst. Besonders von den höheren Kasten waren nur wenige zu ihrer Arbeit unterwegs. Eine U-Bahn öffnete ihre Türen und eine ganze Nachtschicht Vierer schwappte auf den Bahnsteig. Fünf dutzend erdfarbene Overalls, die zu höchstens vier verschiedenen Gesichtern der Klon-Geschwister gehörten. Das Neujahrsfest feierten nur die beiden oberen Kasten, Dreier und niedrigere Kasten gingen zu ihrer üblichen Arbeit. Dafür hatten sie ihre eigenen Feiertage.
Als Arnold die Vierer ansah, fiel es ihm schwer die einzelnen Gesichter zu unterscheiden, außer vielleicht durch eine mehr oder weniger starke Schmutzschicht. Das amüsierte ihn, obwohl man Witze über Kasten nicht laut äußern durfte. Doch es gab diese Witze. Sie wurden auch gestern Abend unter den feiernden Einsern und Zweiern erzählt, aber keiner davon fiel Arnold jetzt noch ein. Isodol macht eben vergesslich. Nur besonders häufige Wiederholungen prägten sich auch unter Isodol-Einfluss in das Gedächtnis ein. Es waren selten die interessanten, sondern meistens die dummen Dinge, die hängen blieben. Arnold konnte sich noch nicht einmal erinnern, mit wem er sich gestern unterhalten hatte.
Die Vierer kamen aus einem speziellen Waggon mit Platz für einhundertundzwanzig stehende Vierer oder einhundertundvierzig Fünfer. Einser oder Zweier benutzten diese Waggons nicht. Als die Vierer ausgestiegen waren, tauchte die leere U-Bahn wieder in den dunklen Tunnel ein und zog eine Wolke von Arbeiterschweiß hinter sich her. In der nächsten Station würden wieder Vierer oder Fünfer einsteigen und die U-Bahn würde wieder in die dunkle Röhre abtauchen, den Arbeiter-Wohnvierteln am Stadtrand entgegen. Lange Leerfahrten waren selten. Die Dreier-Schichten lagen heute offenbar anders. Dann würde Arnold auch später auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn fast keinem Dreier begegnen. Den hohen Kasten hätte es nichts ausgemacht mit anderen Kasten in der U-Bahn zu fahren, doch es war wirtschaftlicher, ganze Arbeitsschichten getrennt nach den Kasten zu transportieren. Auch Sechser würde Arnold in der U-Bahn heute nicht sehen. Das passierte nur selten. Die Sechser-Wohnviertel lagen ganz im Osten und im Westen der Stadt und es gab dort für die Sechser separate Haltestellen, wo sie jeweils zu zweihundert in die gleichen Waggons einstiegen, die auch die Vierer eben benutzt hatten. Die meist unter einem Meter dreißig kleinen Sechser mochten es eng, das wusste jeder. Und trotz ihrer Kindergröße waren sie ein weiterer wichtiger Baustein der Gesellschaft. Viele der Sechser fuhren aber weit aus der Stadt hinaus, um in den großen Fabriken und Kraftwerken zu arbeiten.
Arnold lehrte im Studienfach Errungenschaftslehre die eine große Wahrheit , nach der es vor Jahrzehnten viel weniger Sechser gegeben habe. Er selbst glaubte sogar, dass es eine Zeit gab, in der die Fünfer allein die unterste Kaste gewesen sein mussten, also die unterste von nur fünf Kasten. Woher er das wusste, konnte er nicht genau sagen. Vielleicht glaubte er es auch nur zu wissen. Arnold hatte viele ältere Texte gelesen und je älter die Texte waren, desto seltener wurden darin die Sechser erwähnt. Also vermutete er wahrscheinlich nur, dass es eine Zeit ohne Sechser gegeben haben muss, ohne dies konkret gelesen zu haben. Unvorstellbar als große Wahrheit, beinahe Science-Fiction, nur umgekehrt.
Читать дальше