Er durfte diese Vermutung aber auf gar keinen Fall im Unterricht erwähnen. Sogar ihn selbst irritierte seine Vermutung, weil er bei seiner Recherche nicht erfahren konnte, ob die Epoche, in der noch keine Sechser erwähnt wurden, womöglich eine kleine Wahrheit sein könnte. Man durfte kleine Wahrheiten zwar nicht lehren, aber man musste sie wenigstens nicht leugnen und unter Einsern hätte man sogar darüber reden dürfen. Doch er schwieg lieber über diese gefährliche Idee. Eine Welt ohne Sechser konnte sich auch Arnold nur schwer vorstellen. Wer sonst als die Sechser sollten die gefährlichen Arbeiten machen, die nur Sechser machen konnten? Die Arbeit in den Kraftwerken, im Bergbau, als Feuerwehrassistenz - das liebten die Sechser und alle liebten sie dafür. Die Schulklassen riefen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie eine Gruppe Sechser sahen, oft im Chor: „Sechste Kaste – beste Kaste!“, um den dummen, aber fleißigen Sechser ihre Anerkennung auszusprechen. Meistens waren die Sechser aber viel zu weit weg, um die Schüler zu hören.
Nach kurzem Nachdenken musste Arnold sich eingestehen, Sechser bisher kaum aus nächster Nähe gesehen zu haben, meistens nur gesichtslos in den schnell durchfahrenden U-Bahnen, in denen sie so dicht standen, dass nur die blaue Farbe ihrer Arbeitsuniformen und ihre kindhafte Körpergröße auf ihre Kaste hindeuteten. Ein blauer vielköpfiger Drache zog vorbei, auf dem Weg in die Hitze, den Schmutz oder die Gefahr. Und nach Schichtende von dort wieder zurück in die Sechser-Quartiere. Dieses Bild hatte er sich schon als Kind von den riesigen Sechser-Arbeiterkolonnen gemacht und seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sechste Kaste – beste Kaste.
Wirklich als einzelne Personen hatte er Sechser nur einmal wahrgenommen. Es war im Sommer vor wenigen Jahren, als er in einer Vorlesung zur Auflockerung das schöne Wetter erwähnte und alle unwillkürlich nach draußen schauten. Niemand konnte das Drama übersehen: Ein blauer Punkt rutsche das schräge Dach des alten gegenüberliegenden Gebäudes hinab. Offenbar stürzte gleich ein Sechser-Dachdecker in den Tod. Er rutschte über die Dachkante und stürzte mindestens sechs Meter tiefer auf das Baugerüst vor der Fassade. Der ganze Hörsaal schrie auf. Der Sechser hatte unwahrscheinliches Glück, denn er fiel nicht tiefer, sondern blieb merkwürdig verkrümmt an dem Gestänge des Gerüsts hängen. Er schien bewusstlos, wenn nicht sogar tot. Als er sich plötzlich bewegte, fiel er nochmals tiefer. Aber er blieb zur Überraschung aller nur ein Stockwerk tiefer an einer weiteren Querstange hängen. Ja, er hielt sich sogar, sicher schwer verletzt, mit den Händen fest.
Ein Raunen ging durch den Saal, als ein Fünfer-Fensterputzer seinen Aufzug verlassen wollte, um auf das Baugerüst zu klettern. Er zögerte, als ein anderer Fünfer ihm etwas zurief. Offenbar verbot er ihm seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Die beiden schwarzgekleideten Fünfer sahen danach gelassen zu dem kleinen Blauen hinüber und nahmen nur wenige Augenblicke später ihre Arbeit wieder auf. Auch der Hörsaal beruhigte sich wieder und bald wurden erste Wetten unter den Studenten abgeschlossen, wie lange sich der Sechser noch halten könnte. Es war nicht ungewöhnlich oder verboten auf unabwendbare Ereignisse Wetten abzuschließen, so lange man um nichts Wertvolles wettete.
Der kleine Sechser war erstaunlich zäh und hing immer noch reglos an der Stange. Die niederen Kasten, auch die beiden schwarzgekleideten Fünfer-Fensterputzer, waren sehr stark konditioniert ihre Arbeit in den ungewöhnlichsten Situationen weiterzumachen. Auch im Hörsaal, der an diesem Tag nur mit Zweiern gefüllt war, wurden die Studenten nervös, weil sie von Arnold erwarteten, dass er die Vorlesung fortsetzte. Inzwischen hatten die meisten der Studenten die amüsante Gelegenheit genutzt und auf irgend eine Uhrzeit gewettet. Nur eine Studentin hörte Arnold selbstbewusst sagen: „Er fällt nicht herunter.“ Aber vielleicht wollte sie einfach nur nicht wetten.
Arnold Wankel setzte seine Vorlesung fort. Dann plötzlich erschien ein zweiter blauer Punkt auf dem Gerüst. Ein anderer Sechser kletterte schnell und geschickt am Gerüst herunter und war sofort bei seinem Kollegen. Er schlang einen Arm um den Körper und zog ihn kraftvoll in Richtung des Gerüstes. Der Verletzte ließ nicht los. Es kostete den Retter eine weitere Minute den Griff des Verletzten zu lösen, indem er stark an ihm rüttelte. Dann reichte er ihn mühelos durch ein Fenster in das Gebäude hinein. Heitere Erleichterung breitete sich im Hörsaal aus und die Studenten unterhielten sich angeregt. „Mut haben sie, die Sechser.“, „Reife Leistung!“, „Wie lange, Jassir?“ - „Vierunddreißig Minuten“, „Huh, ich kenne einen Zweier-Turner, der das vielleicht zehn Minuten durchgehalten hätte. Wie müssen diese Zwerge nur trainieren?“
Nur Arnold bemerkte den zynischen Widerspruch in dieser respektvoll gemeinten Bemerkung der Zweier-Plus Studentin. Jeder wusste, dass es für die drei unteren Kasten, Vierer, Fünfer und Sechser, weder die Zeit noch die Notwendigkeit für Sport gab, so viel und so hart arbeiteten sie. Zynismus war aber bei Zweiern ungewöhnlich, wenn auch durchaus möglich. Wahrscheinlich war es aber nur gedankenlos von der Studentin. Erforderte Zynismus doch die Fähigkeit eine Sache gleichzeitig aus mehreren Blickrichtungen zu betrachten. Daran mangelte es hier im Hörsaal, denn keiner lachte. Wenn es Zynismus war, hatten die Kommilitonen ihn nicht verstanden.
Aus der hinteren Sitzreihe rief einer der Studenten: „Die mutigen Sechser sind das Fundament unserer Gesellschaft, aber ich bin stolz ein Zweier zu sein!“ Er zitierte damit eine Nachtschulweisheit, die hier alle kannten. Zustimmung raunte durch den Saal und einige murmelten dabei: „Sechste Kaste – beste Kaste!“. So hatten sie es über Jahre, drei Nächte pro Woche eingeflüstert bekommen.
Nochmals erhob die Zweier-Plus emotionslos ihre Stimme. „Konditionierung. Sie behalten dadurch den Klammer-Reflex der Säuglinge. Er hat sich wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst festgehalten und wäre erst gefallen, wenn sein Kreislauf versagt hätte. Er konnte nicht anders. Und Mut haben sie auch nicht, sie haben nur keine Angst. Alles keine bewusste Handlungen, nur reine Konditionierung.“
Es war Putina, die da sprach, eine angehende Ärztin für Vierer und Fünfer oder auch Pharmakologin, so viel Arnold wusste. Putina sah im Hörsaal in die zufriedenen und beruhigten Gesichter ihrer Kommilitonen. Konditionierung war gut, das wussten die Studenten hier. Sie erleichtere es jedem seine Aufgaben zu erfüllen. Wie gut, dass Putina ihnen das Erlebte mit der wertvollen Errungenschaft der Konditionierung erklärt hatte. Doch das hatte sie nicht beabsichtigt, sie hatte gar nichts mit dieser Bemerkung beabsichtigt, es brach einfach aus ihr heraus. Sie hatte ein Bedürfnis Dinge richtig zu stellen, die Wahrheit zu sagen. Das wollte Arnold auch, traute sich aber oft nicht. Nicht so offen, wie diese Studentin. War das Mut oder wusste sie nicht was sie riskierte?
An noch einen weiteren so nahen Kontakt zu den Sechsern erinnerte sich Arnold nicht, er wusste erstaunlich wenig über sie, offenbar viel weniger als diese Studentin.
Arnold saß inzwischen im U-Bahn Abteil und fuhr nach Süden in die Innenstadt. Ein wenig perplex war er noch wegen seines kleinen Blackouts bei der gestrigen Feier. Es war ihm grundsätzlich egal, mit wem er sich möglicherweise vergnügt hatte, dafür waren die Feiertage da, aber er wüsste es nur gerne. Aus Verlegenheit überprüfte auf seinem Smart-Pad am Handgelenk den monatlichen Stand seiner Konsumpunkte. Es mussten beinahe null Punkte sein, da der Monat gestern begonnen hatte. Überrascht sah er, dass die Anzeige auf drei Komma neun stand. Fast vier Konsumpunkte an einem Feiertag! Er musste mächtig gefeiert haben und gratulierte sich selbst, dem Ziel von einhundert am Monatsende schon näher gekommen zu sein. Er schaute sich auf dem Wandschirm der U-Bahn noch eine Werbung an und wurde sofort dafür belohnt, indem die Anzeige auf vier Komma null umsprang. Er musste lachen, weil es ein Werbesport für Isodol-Vier war. Trotzdem fragte er sich, was diese vom Staat geforderte positive Einstellung zum Konsum ihm persönlich brachte.
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