Damals waren die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht in allen Emo-Kinos eingebaut. Die Emitter sorgten während der Filmvorführung dafür, dass die Emotionen der Zuschauer nicht zu stark wurden. Niemand sollte zu begeistert, womöglich deprimiert oder nachdenklich das Kino wieder verlassen. Am Anfang funktionierten die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht so zuverlässig wie heute. Aber man erzählte sich, wie gefährlich es sein konnte eins der älteren Kinos zu besuchen, die nur schwache Beruhigungswellen-Emitter besaßen. Eines Tages soll nach einem sehr aktionsgeladenen Film ein junger Zweier-Minus geglaubt haben, er könne unverletzt sechs Stockwerke tief auf eine Aussichtsplattform herunterspringen. So hatte er es im Film gesehen. Ein breitschultriger Eins-Plus rettete im Film unzählige Einser, Zweier und Dreier, indem er von Hochhaus zu Hochhaus sprang und dabei blaue Invasoren aus dem Weltall mit bloßen Händen erschlug. Der Zweier starb bei seinem Versuch den Filmhelden nachzuahmen.
Seitdem die Beruhigungswellen-Emitter vorgeschrieben waren, hatte es keinen solcher Unfälle mehr gegeben. Zumindest war keiner mehr bekannt geworden. Gut bekannt war aber jedem die Wirkung der Wellen in Filmen, in denen die Emitter besonders intensiv arbeiteten. Das war immer während sehr emotionalen oder Fantasie anregenden Filmen der Fall. Die Besucher kamen dann angeheitert und entspannt aus den Kinosälen, sodass sie oft noch Stunden danach kein Verlangen nach Isodol verspürten. Die Wellen behindern das Kurzzeitgedächtnis und erzeugen eine sehr zufriedenstellende Euphorie bei den Kinogästen. Sie können dann nicht länger als einige Sekunden über das Erlebte nachdenken und die Erinnerungen an den Film verdunkelten sich in ihrem Langzeitgedächtnis zu Erinnerungen wie aus sehr früher Kindheit. Ein Actionfilm war ein Actionfilm, eine Komödie eine Komödie. Die Kinobesucher wollten gute Unterhaltung und Ablenkung, keine Details, über die sie noch lange nachgrübeln oder sogar streiten mussten. Die Beruhigungswellen-Emitter zerstreuten regelrecht die Gedanken und Erinnerungen.
Science-Fiction wurde in den Emo-Kinos nicht sehr häufig gespielt. Doch Arnold erinnerte sich immer an seine gespannte Neugier am Anfang dieser Filme. Doch je länger die Wellen einwirkten, desto mehr nahm diese Neugier ab. Nur selten konnte er sich nachher an die Handlung in der Mitte des Films erinnern. Meistens blieb ihm die erste Szene im Gedächtnis und vielleicht noch das Happy-End, weil die Wellen am Ende etwas reduziert wurden. So bekam man zwar den Eindruck den Film bei vollem Bewusstsein erlebt zu haben, sich mit anderen über Filme zu unterhalten war dadurch aber nur sehr oberflächlich möglich. Oft blieb es bei einem „Hast du den Film auch gesehen?“ - „Ja, schöner Film.“ Ganz selten mehr.
Das alles stellte Arnold nicht zufrieden. Er wollte die Filme, die er so mochte, viel detaillierter im Gedächtnis behalten. So versuchte er bei weiteren Science-Fiction-Filmen, den Punkt dieses vergesslich-zufriedenen Stimmungsumschwunges auf später zu verschieben. Meistens erfolglos. Doch manchmal, wenn er einen Film an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen anschaute, blieb eine vage Vorstellung der gesamten Handlung in seinem Gedächtnis haften. Und er wurde sich immer sicherer, dass er über Nacht die bruchstückhaften Erinnerungen ein wenig sortieren und am Morgen etwas präziser wieder aus seinem Gedächtnis hervorholen konnte. Doch es war mehr wie eine Idee eines Film, die sich fast so anfühlte, als sei sie ihm gerade erst selbst gekommen. Je häufiger er einen Film ansah, desto besser erinnerte er sich. Nach der zwanzigsten oder dreißigsten Vorführung konnte Arnold einen Film mit etwa einem Dutzend Sätzen nacherzählen. Immerhin ein Dutzend Sätze, aber auch nicht mehr. Die Erinnerungen fühlten sich an, als sei sein Gehirn krank. Details verblassten immer wieder unaufhaltsam aus seiner Erinnerung. Zäher Gedankenbrei verhinderte eine klare Erinnerung, egal, wie intensiv er sich bemühte.
Dies behielt Arnold aber für sich, denn fantasievolle Gedanken galten, ähnlich wie Träumen, bereits als leichte Geisteskrankheit. Arnold bezweifelte geisteskrank zu sein, weil sich die Reisen in seine Gedankenwelten sehr gut anfühlten. Etwa so gut wie ein Gramm Isodol, nur frei und inspirierend statt betäubend. Diese innere Freiheit genoss Arnold, er nahm sich das Recht diese inneren Ausflüge zu unternehmen. Besonders da er er als Einser-Professor glaubte gewisse Rechte zu haben, auch wenn es so nirgends geschrieben stand. Er sprach nicht in den Andachtssitzungen oder sonst mit irgend jemandem darüber. Es kannte auch sonst niemanden, dem er das mitteilen wollte. Seine flüchtigen Bekanntschaften, weiblicher wie männlicher Art, und die Kontakte mit Kollegen waren reiner Freizeitvertreib, so wie die Neujahrsfeier letzte Nacht. Nein, so etwas wie intellektuellen Austausch oder philosophischen Gedankenaustausch gestattete Arnold nur mit sich selbst. Woher er die Eigenschaftswörter intellektuell und philosophisch kannte, wusste er nicht genau, aber er glaubte ihre ungefähre Bedeutung zu kennen.
Arnold war sicher, dass die Beruhigungswellen auch die Fantasie einschränkten, sogar noch stärker als Isodol. Im leichten Isodol-Zwei-Rausch hatte er schon manche Idee für seine Vorlesungen gehabt. Isodol-Zwei ersetzte seit einigen Jahren das erste Isodol und es war viel bekömmlicher als das alte. Aber nachdem er den Beruhigungswellen ausgesetzt war, fühlte er sich immer viele Stunden lang noch ideenloser als unter Isodol-Zwei. Arnold war sich aber sicher, dass seine Fantasie nicht schädlich für ihn war, sondern für seine Arbeit sogar nützlich. Als Einser-Professor unterrichtete er die Einser- und Zweier-Jungstudenten in Geschichte und in Errungenschaftslehre an der Frankfurter Krupp Universität. Er legte in seinen Vorlesungen stets Wert darauf, dass seine Studenten sich den Lehrstoff über mehrere Sinne oder Wahrnehmungskanäle einprägten, auch wenn es manchen schwer fiel dafür mehrere Sinne einzusetzen. Viele seiner Studenten schien es aber auch an der Fantasie zu fehlen, die in ihren Köpfen weitere Kanäle für neue Erkenntnisse bahnen würde. Doch das war wieder nur eine von Arnolds vielen geheimen Ideen.
Die Beruhigungswellen im Kino schienen im Gehirn jene weiteren Kanäle zu blockieren, über die man sich das Erlebte auf zusätzlichen parallelen Wegen viel nachhaltiger einprägen würde. Nach einem Kinobesuch fehlten dann im Gehirn weitere Anker, das Gesehene festzuhalten. So war es schwer möglich, die gesehenen Bilder mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zu verknüpfen, um sie gleichzeitig in mehreren Bereichen der Gehirns abzuspeichern. Nur auf einem Kanal etwas wahrzunehmen bedeutete, dass man schon bei der kleinsten Störung, wie zum Beispiel der nächsten Filmszene, schnell wieder vergaß, was man davor gesehen hatte. So wie Träume aus der Erinnerung des Träumers verschwanden, wenn man nicht sofort versuchte sie sich nach dem Erwachen fest einzuprägen. Das hatte Arnold in einem Buch über Geisteskrankheiten gelesen, denn natürlich hielt er sich an das Traumverbot und träumte nicht. Die Bilder, die er im Schlaf sah, waren Erinnerungen, unbedeutende Bruchstücke von Erinnerungen. Nur ein bildliches Nachdenken im Halbschlaf. Nicht mehr, denn er war kein Träumer, da war er sich ganz sicher. Niemand durfte ein Träumer sein. Trotzdem war das alles Arnolds ganz persönliche Theorie, die er niemandem offenbaren wollte.
Je mehr es Arnold gelang, sich diese Filme durch Wiederholung im Gedächtnis zu bewahren, umso mehr regten sie seine Fantasie an. Bald fragte er sich, ob ein Emo-Kinofilm, indem man ihn sich immer wieder, Tausende Male anschaute, zu einer großen Wahrheit werden könnte. Damit würde sich die alte Nachtschulweisheit bestätigen.
Arnold vermied es das Wort Fantasie vor anderen zu benutzen, so lange er es vermeiden konnte. Es war in den letzten Jahren immer mehr zu einem Synonym für eine Geisteskrankheit geworden, die sich besonders unter den Einsern ausgebreitet hatte. Er selbst dachte aber sehr viel über den Begriff Fantasie nach und bekam immer mehr den Verdacht, dass viele seiner Ideen jener Quelle entsprangen, die als Fantasie bezeichnet wurde. Seine Gesundheit schien darunter nicht zu leiden. Also hatte er auch keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen oder einen Psychologen um Rat zu fragen.
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