Hätte die Welt in Huxleys Roman aber dreimal soviel Zeit gehabt sich zu verändern, wären die Veränderungen weniger wahrnehmbar gewesen. Kenner von Huxleys Meisterwerk werden diese Unterscheide der alten schönen neuen Welt zur Gesellschaft im aktuellen Roman „Achtzig Jahre danach...“ sofort erkennen. Die Veränderungen in „Achtzig Jahre danach...“ zu Huxleys „Schöner Neuen Welt“ sind zum Teil erheblich, teilweise aber auch nur unwesentlich. Der neue Roman soll nicht als zweiter Teil von Huxleys Romans verstanden werden. Eine Fortsetzung hätte Huxley persönlich in den drei Jahrzehnten nach dem Roman schreiben müssen, um authentisch nah am Original zu bleiben. „Achtzig Jahre danach...“ ist als Alternative von vielen denkbaren Alternativen zu verstehen, eine gesellschaftliche Fantasie, die mit Hilfe der heute greifbaren Möglichkeiten geschaffen wurde, die aber in den 1930er Jahren noch nicht einmal denkbar gewesen war.
Wer erleben möchte, wie sich die hier erwähnten Entwicklungen auf Huxleys „Schöne neue Welt“ ausgewirkt haben könnten, dem empfehle ich meinen folgenden Roman „Achtzig Jahre danach in der schönen neuen Welt" gründlich zu lesen. Der Leser wird darin willkommen geheißen im Jahr 760 Jahre nach den Stock Yards von Chicago , wo die Schlachtung am Fließband erfunden wurde!
Ron Palmer
Diese Einleitung wurde auch als separate Abhandlung veröffentlicht.
Kapitel 1 – Ich bin stolz ein Zweier zu sein
Die schwarze Flaschenreihe klimperte auf der Förderanlage. Putina erinnerte das entfernt an die Geräusche, die sie vor sechs Monaten in den oberen Stockwerken der Schule gehört hatte. Statt in den Pausengarten zu gehen, stieg sie damals die Treppe hinauf bis in die Etage, wo nur die Einser-Kinder der Grundschule unterrichtet wurden. Eine Tür stand offen. Das interessante Klimpern zog Putina unwiderstehlich an, sie ging ihm entgegen und bliebt im Türrahmen stehen. Sie sah einen etwa gleich alten Jungen vor einem hölzernen Kasten sitzen. Er drückte am Kasten auf eine Reihe schwarzer und weißer Tasten und entlockte ihm so die faszinierend klingenden Töne. Am Türrahmen entzifferte sie K-L-A-V-I-E-R-Z-I-M-M-E-R und wollte eintreten. Bohrend durchfuhr sie plötzlich ein automatischer Elektroschock aus ihrem Erziehungshalsband. Das hatte sie noch nie gefühlt, wusste aber sofort, dass dieser Bereich für Zweierinnen wie sie tabu war. Weinend rannte sie in den Pausengarten hinunter. Sie wischte ihre Tränen weg. Niemand hatte ihren Fehltritt bemerkt und sie ging danach nie wieder in die oberen Stockwerke der Schule.
Noch mehr schwarze Flaschen zogen auf dem weißen Förderband an Putina vorbei, während der uniformierte Mann erklärte, dass darin kleine Kinder heranwuchsen. Sie kippte ihren Kopf auf die rechte Schulter. Jetzt sah sie plötzlich vor sich eine endlose Klaviertastatur in der Weite der Bruthalle verschwinden. Das Klimpern war nicht so schön wie das Klimpern, das der Junge mit den Tasten am Klavier gemacht hatte. Sie hielt den Kopf wieder aufrecht und sah erneut die schwarz getönten Brutflaschen mit den zehnwöchigen Embryos darin. Man konnte sie nur gegen das Licht als erdbeergroße Schatten erkennen. Langsamer als eine Schnecke krochen die Brutflaschen auf der Förderanlage vorwärts. Klaviertastatur - Brutflaschen - Klaviertastatur - Brutflaschen, das erkannte Putina vor sich, je nachdem, wie sie ihren Kopf hielt. Die Lehrerin stieß sie unwirsch an: "He, was soll das? Du sollst zuhören, was uns der stellvertretende Klon- und Prägungsdirektor zu sagen hat."
Das Mädchen lief rot an. Noch nie zuvor wurde die unauffällige Putina von ihrer Lehrerin zurechtgewiesen. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht gegen das Traumverbot verstoßen hatte und spürte Panik. Ihr hatte vorher niemand gesagt, dass sie die Brutflaschen nicht schräg betrachten durfte, und sie hatte dabei doch gleichzeitig dem stellvertretenden Klon- und Prägungsdirektor gehorsam zugehört, wie es von ihr verlangt wurde. An dieser Stelle der Förderanlage wurden die Hormone zugesetzt, mit denen die Körpergröße der späteren Erwachsenen bestimmt wurde.
Bild: Flaschenreihe-b2-b490.jpg
Obwohl sie gut zugehört hatte, widersprach Putina der Lehrerin nicht. Sie wollte nicht noch mehr auffallen. Seitdem wusste sie, dass sie die Dinge anders wahrnahm, als sie wahrgenommen werden sollten, und mit jedem Monat, den sie älter wurde, spürte sie einen inneren Widerstand dagegen in sich heranwachsen. Das machte ihr Angst.
Vor noch nicht einmal einem Jahr hatte sie erlebt, wie der siebenjährige Slobodan aus ihrer Klasse abgeholt wurde. Wegen abweichender Prägung , so versuchte es die Lehrerin zu erklären. Putina konnte sich noch daran erinnern, wie er nur einen Tag davor zunächst dem Sport-Lehrer und in der nächsten Stunde auch noch der Einheitskunde-Lehrerin widersprochen hatte. Ziemlich höflich hatte er seine Lehrer auf einen Widerspruch in ihrem Unterricht hingewiesen und ihn sogar als Frage formuliert. Doch Putina hatte Slobodan seitdem nie wieder gesehen.
Sie glaubte jetzt krank zu werden, wenigstens ein wenig. Sie hoffte, dass es nicht so schlimm wie bei Slobodan werden würde und es mit der Zeit von alleine wieder verschwinden werde. So verhielt sie sich weiter unauffällig.
Arnold Wankel goss sich ein großes Glas kaltes Leitungswasser ein, um Klarheit in seinen noch immer dröhnenden Kopf zu bekommen. Er hätte nur ein Gramm Isodol-Zwei nehmen müssen und keine zehn Minuten später wäre er gut gelaunt und voller Elan an seine Arbeit gegangen. Aber Arnold hatte keine Lust auf das neue, aufputschende, schmerzstillende und stimmungsaufhellende Kügelchen. Isodol-Zwei - alle schworen jetzt auf Isodol-Zwei. Und die Psychologen verordneten Isodol-Drei, das medizische Isodol, wenn nichts mehr half. Gaga-Isodol nannten es viele hinter vorgehaltener Hand. Arnold überzeugten auch die neuen Isodol-Sorten nur wenig und mit jedem Tag immer weniger. Wenn er Isodol-Vier nahm, litt er meistens unter dem Gefühl, dass es irgend einen wichtigen Teil seines Gehirns einschläferte statt ihn aufzuwecken. Aber Isodol-Vier sollte doch glücklich und wach machen und nicht glücklich und entspannt wie Isodol-Drei. Vielleicht war das bisher nur ihm aufgefallen, denn er hatte nie jemanden darüber reden hören. Viel angenehmer als Isodol-Vier fand er es, nach einer lauwarmen Dusche einen Spaziergang zu machen und zu spüren, wie sich der Kater des Vortages von allein verzog. Dieser Kater war nicht wirklich schmerzhaft, lediglich ein leichtes Rauschen zwischen den Ohren mit einem leichten Schwindel und keine Folge des Alkohols. Dieser hatte schon lange keine Nebenwirkungen mehr. Es war heute vielmehr ein gestörter Flüssigkeitshaushalt, Muskelverspannungen und der Schlafmangel der langen Neujahrsfeier, die ganze zwanzig Stunden gedauert hatte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern.
Immerhin wusste er noch, dass nun die Sechzigerjahre begonnen hatten, das Jahr 760 nach Chicago. So hieß die neue Zeitrechnung. Chicaco war für Arnold ein sehr abstrakter Begriff. Er wusste natürlich aus der Nachtschule, dass die Fließbandarbeit damals in den Chicagoer Schlachthöfen erfunden wurde. Es war eben nicht jener Herr Ford, wie dies die Anhänger der Geschichtsfälschung noch viele Jahre lang behauptet hatten. Zum Glück wurde dieser Irrtum in der großen Kulturrevolution vor fast achtzig Jahren korrigiert.
Die Sechzigerjahre begannen jetzt also. Als Kind hatte er bestimmte Vorstellungen über die Zukunft und die Sechzigerjahre waren für ihn immer ferne Zukunft gewesen – unerreichbar fern. Die meisten seiner Vorstellungen der Zukunft stammten aus den Science-Fiction-Filmen, die er in Emo-Kinos erlebt hatte. Er sah dort die gleiche schöne Welt, in der er bereits lebte, jedoch in vielen kleinen Details noch ein wenig perfekter und schöner. An viele seiner damaligen Visionen der Zukunft konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Woran er sich aber jedes Mal ganz deutlich erinnern konnte, war ein dumpfes Gefühl in seinem Kopf, und das nach jedem Kinobesuch, ganz ähnlich wie sein momentaner Kater.
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