"Wann ist das Ganze denn passiert?", erkundigte sich Femm jetzt neugierig.
"Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube aber, dass es jetzt schon drei, vielleicht auch vier Jahre zurückliegt."
"Und weißt du auch, warum alle das Dorf verlassen sollten?"
"Das haben die Männer und Frauen nicht gesagt. Erst recht nicht, als sie in der Nacht kamen und alles niederbrannten." Femm konnte es einfach nicht glauben, was sie da hörte. Auf der anderen Seite unterstützte dies ihr Theorie, dass man am besten dort etwas versteckt, wo die Menschen glauben, der Tod würde an diesem Ort leben. Jemand hatte hier mit aller Macht ganze Arbeit geleistet, um diesen Teil des Landes als unheimlich und todbringend zu etablieren. Obwohl sie als Magus die meiste Zeit im Kloster lebte, waren ihr die Vorgänge in der Außenwelt nicht vollkommen entgangen. Und erst recht nicht, nachdem sie auf Arazeel angesetzt worden war. Für sie gab es nur eine Gruppe, die derartige Taten vollbringen würde. Auch, wenn sie es gerne der Regierung von Mår-quell angehängt hätte, konnte nur die ProTeq dafür verantwortlich sein. Das wiederum bedeutete, dass diese überdimensionierte Firma hier etwas Beträchtliches zu verstecken hatte. Und die Flugrichtung des Patrouillenhover bestätigte die Vermutung.
"Sag mal, ist dir hier in der Gegend schon einmal etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Bist du hier eventuell auf größere Gebäudekomplexe gestoßen?"
"Dazu kann ich nichts sagen. Ich begebe mich meistens nicht allzu weit von dem Dorf weg. Nur, wenn wir jagen", erklärte Grinn und streichelte erneut den Kopf des Tieres.
"Sind dir denn zumindest schon einmal diese Patrouillenhover aufgefallen, wie der eine, der vorhin an deinem Dorf vorbeigezogen ist?"
"Du meinst diese großen, schwarzen Flugobjekte? Ja, da kommt manchmal einer. Sind aber immer nur sehr wenige. Keine Ahnung, wo die hin wollen."
"In beide Richtungen?", hakte Femm nach.
"Ich glaube schon. Ich mache mich immer dünn, wenn ich sie höre. Muss ja keiner wissen, dass ich hier lebe."
"Ich würde dich ja gerne einladen, mich zu begleiten, aber ich bin auf einer Mission."
"Oh, nein danke. Ich werde hier nicht so schnell weggehen. Das ist meine Heimat. Freiwillig gehe ich nirgendwo anders hin."
"Kannst du mir vielleicht noch irgendetwas über diese Region hier erzählen? Etwas, das mir hilft, wenn ich mich hier bewege?"
"Nicht wirklich. Ist eigentlich ziemlich langweilig hier. Ich hoffe für dich, du hast genügend Lebensmittel dabei. Hier gibt es nur wenig Wild oder Obst, das man jagen und essen kann."
"Danke. Damit habe ich keine Probleme. Aber ich habe da so eine Idee. Wo ist dein Haus?" Das Mädchen schritt voran und brachte die Magus zu einem halbwegs intaktem Gebäude, in dem sie lebte. Hinten war eine Grünfläche, die Femm mit ihren Erd- und Wasserfähigkeiten zu einem Garten mit Obst und Gemüse umwandelte. Grinn war begeistert.
Als Isenn einige Stunden später den Raum ihrer Tochter betrat, hatte die alle wichtigen Informationen aus der Bibliothek zusammengetragen. Zumindest war sie dieser Überzeugung, da sie gefühlt einige hundert Bücher gewälzt hatte. Immer waren nur sehr wenige Details oder Beschreibungen zu finden gewesen. Das Ganze erinnerte an ein Puzzle mit zehntausend Teilen, die alle aus der Farbe Schwarz bestanden. Immerhin konnte sich die junge Magus jetzt eine bessere Vorstellung von dem machen, was sie wo suchen musste. Aus der Küche der Bastei hatte sich das Mädchen einige Vorräte geholt, die sie gerade verpackte, als sich die Tür öffnete.
"Willst du weg?", fragte ihre Mutter erstaunt.
"Ich muss etwas erledigen", bestätigte Shilané.
"Hat das was mit deinen Freunden zu tun, von denen du erzählt hast?"
"Nein. In diesem Fall ist es etwas anderes, dem ich nachgehen muss." Sie griff nach den Karten und Notizen, die auf ihrem Tisch lagen, um diese in dem Rucksack zu verstauen, als ihr auffiel, dass ihre Mutter einige der Blätter in den Händen hielt und sie studierte. Sie hielt inne und wartete angespannt, bis Isenn fertig war. Dann streckte sie ihre Hand nach den Seiten aus. Ihre Mutter zögerte.
"Du willst die Schwesternschaft suchen?", fragte Isenn mit gemischten Gefühlen. "Warum?"
"Es geht um Arazeel", antwortete Shilané kurz.
"Was willst du von ihm?"
"Ich glaube, Arazeel ist der Schlüssel zu allem. Und ich will ihn kennenlernen."
"Aber was hat die Schwesternschaft damit zu tun? Dein Vater hat Arazeel doch in die Hauptstadt gebracht."
"Und die Magus haben ihn dort gefunden, verloren, in Akeḿ wiedergefunden, erneut verloren und jetzt weiß niemand, wo er ist. Niemand, bis vielleicht auf die Schwesternschaft."
"Wer sagt das?", ereiferte sich Isenn etwas zu laut für Shilanés Geschmack. Sie wurde neugierig. Normalerweise stellte ihre Mutter nicht so viele Fragen. Laut wurde sie schon gar nicht. Irgendetwas steckte dahinter.
"Einige Mitglieder der zweiten Fraktion. Sie sind sich zwar nicht absolut sicher, sind jedoch der Meinung, dass, wenn jemand weiß, wo Arazeel ist, die Schwesternschaft die wahrscheinlichste Gruppe ist."
"Dir ist hoffentlich klar, dass man den anderen Fraktionen nicht trauen kann", versuchte Isenn ihre Tochter zu überreden.
"Und dir ist hoffentlich klar, dass ich in den letzten Tagen viel mit den anderen Fraktionen gearbeitet habe, weswegen ihr wieder miteinander sprecht. Warum sollten mich die Fraktionen in eine Falle locken?"
"Du hast aber auch keine Ahnung, was es mit der Schwesternschaft auf sich hat", konterte die ältere Magus.
"Ich habe eine Vielzahl an Einträgen über sie in den Annalen gefunden. Mir ist allerdings noch nicht ganz deutlich, um was für einen Zusammenschluss es sich wirklich bei den Schwestern handelt. Aber, das werde ich noch herausbekommen."
"Und wie willst du das machen? Sie besuchen? Anklopfen und Hallo sagen? Du weißt doch noch nicht einmal, wo sie zu finden sind."
"Ich habe, wie du sehen kannst", dabei wies sie mit einer Hand auf die Dokumente, die Isenn immer noch festhielt, "die letzten Stunden in der Bibliothek verbracht und mich durch unzählige Bücher gearbeitet. Mittlerweile habe ich eine recht gute Ahnung darüber, wer sie sind und wo ich nach ihnen suchen muss."
"Und du weißt auch mit Sicherheit schon, welche Gefahren dir begegnen werden, ebenso, wie du sie meistern kannst, nehme ich an." Sie schnaubte verächtlich. "Ihr jungen Leute seid alle so arrogant, dass ihr glaubt, alles zu können und alles zu wissen. In den Büchern steht bei weitem nicht jedes Detail über die Hashin. Vieles wurde mit Absicht weggelassen. Und genau diese Dinge, die du nicht auf den Seiten zwischen den diversen Buchdeckeln gefunden hast, sind genau die Gefahren, welche dich erwarten werden und auf die du nicht vorbereitet bist. Nur, wenn du ihnen begegnest, wird es zu spät sein. Verstehst du das denn nicht?" Langsam wurde Shilané etwas klar. Offensichtlich wusste ihre Mutter besser über diese Schwestern Bescheid, als die Historie, die in der Bibliothek lagerte. Und mit einer Sache hatte sie vollkommen recht. Der Begriff Hashin war in keinem einzigen Buch vorgekommen. Oder hatte ihre Mutter das Wort gerade eben erfunden, um sie zu verunsichern?
"Erzähl mir, was du über die Hashin weißt. Wie mir scheint, machen sie dir Angst. Ist das richtig?", fragte das junge Mädchen provozierend.
"Oh, nein, mein Kind. Das funktioniert nicht. Du wirst mich nicht reizen. Ich werde dir nichts über die Hashin verraten. Durchwühle doch deine Bücher nach ihnen. Ich bin schon gespannt, was du über sie herausfinden wirst."
"Nichts", konterte Shilané offen. "In den Büchern wird der Name nicht ein einziges Mal erwähnt. Weswegen ich mich frage, ob du dir das Ganze gerade ausgedacht hast." Isenn stöhnte laut in Verzweiflung über den revoltierenden Teenager auf.
Читать дальше