Kapitel 1
"Ich werde mich nicht noch einmal wiederholen", schnaubte Shilané immer noch wütend. Auffordern blickte sie in die Runde. Dabei schaute sie jeden Einzelnen, jeder Frau und jedem Mann, starr in die Augen. Langsam kam Bewegung in die Gruppe und ein leises Gemunkel wurde hörbar. Keiner der Anwesenden ließ das Mädchen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde unbeobachtet.
"Haben dir die anderen Fraktionen nichts über ihn erzählt?", fragte schließlich der Ordensführer.
"Glaubst du, ich würde fragen, wenn sie das getan hätten? Jedes Mal, wenn ich mehr wissen wollte, hieß es, frag den Rat. Was habt ihr mir verschwiegen?" Die Mitglieder des Rates sahen sich betroffen gegenseitig an. Keiner wollte der Erste sein, der etwas über Arazeel verlauten ließ. Immerhin war die Geschichte schon einige Jahre alt und hatte nicht wirklich noch eine Bewandtnis. Nacheinander schauten alle zum Meister des Rates, der sich schließlich nicht mehr aus der Sache heraushalten konnte.
"Also gut", begann er. "Ich denke, Shilané hat ein Recht zu erfahren, was es mit Arazeel auf sich hat. Ansonsten kann sie unmöglich mit den anderen Fraktionen weiter verhandeln. Und wir haben mittlerweile ganz andere Sorgen als dieses unsägliche Ereignis, wie Shilané uns berichtet hat. Wenn wir sicher sein wollen, vor diesem Mutantenmädchen, dann können wir uns nur gemeinsam gegen sie wehren." Er machte eine kurze Pause und deutete der jungen Frau mit einer Handbewegung an, sich zu setzen. Dem Rest des Rates nickte er nur zu, es ihr gleichzutun. "Das wird jetzt einige Zeit dauern", offenbarte der alte Mann ihr. "Der Vorfall selbst ist schnell erklärt, doch das Drumherum ist sehr komplex."
Nach etwas mehr als einer Stunde endete der Meister des Rates mit seinen Ausführungen. Es trat ein langes Schweigen ein. Shilané saß mit halb geöffnetem Mund und einem verstörten bis ungläubigen Gesichtsausdruck unbeweglich am Tisch. Sie starrte ihren Gegenüber an. Sollte das alles die Wahrheit gewesen sein? Konnte das überhaupt wahr sein? Das Mädchen schüttelte den Kopf energisch, um ihn freizubekommen. Dann schluckte sie deutlich, was ihre trockene Kehle jedoch nicht wirklich half. Schließlich raffte sich die junge Frau zusammen.
"Das ist doch wohl nicht euer Ernst", brachte sie endlich hervor.
"Doch. Das ist unser voller Ernst. So hat sich alles zugetragen und entwickelt.
"Dann bin ich ja…"
"Genauso ist es. Das bist du", bestätigte eine Frau aus dem Rat überhastet.
"Das muss ich erst einmal verarbeiten", stöhnte Shilané und stand auf. "Ich gehe jetzt in meinen Raum und möchte nicht gestört werden." Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie auf die Tür zu, öffnete diese und verschwand auf dem Gang.
"Da war wohl ein gehöriger Schock für das arme Mädchen", meinte eine weitere Anwesende.
"Kannst du ihr das verdenken?", fragte ein Mann nüchtern.
"Ich hoffe nur, sie kommt damit klar", fügte eine dritte Person hinzu.
"Das wird sie schon", versuchte der Meister die anderen zu beruhigen. "Natürlich ist es im ersten Moment erschreckend, wenn man solche Dinge erfährt, aber es ist nichts, das man nicht ertragen kann."
Shilané benötigte in ihrem Zimmer nicht die Zeit dazu, die persönlichen Informationen, die sie erhalten hatte zu verarbeiten, sondern, um ihre Strategie mit den anderen Fraktionen unter diesen Umständen ein weiteres Mal zu überdenken. Natürlich hatten einige der neuen Fakten sie wie ein spitzes Messer getroffen. Unerwartet und unvorstellbar. Und sehr privat. Aber auf der anderen Seite auch wiederum sehr schön. Sie lächelte kurz. Als das Mädchen jedoch bemerkte, dass sie vom eigentlichen Thema abschweifte, verschwand der Glücksausdruck aus ihrem Gesicht. Nachdem sie lange und ausgiebig nachgedacht hatte, es war schon fast Abend geworden, stand Shilané entschlossen auf und erstellte ein Portal, durch das sie die geheime Bastei der Magus verließ, um nur einen Atemzug später bei den versammelten Fraktionen einzutreffen.
"Ah, da ist sie ja wieder", wurde die junge Frau von einem Mann mittleren Alters empfangen. "Wir waren uns nicht sicher, wann oder gar, ob du wiederkommen würdest."
"Dass ich zurückkomme, damit hättet ihr allerdings rechnen müssen. Schließlich geht es hier um mehr, als diesen jahrelang andauernden Streit. Das habe ich euch schon erklärt. Und was diesen Arazeel angeht, er hat zwar etwas damit zu tun, dass ihr euch von den Magus getrennt habt, er hat jedoch nichts mit dieser Hexe Ysana zu tun, die unser aller Leben bedroht."
"Da kommst du schon gleich auf den Punkt", unterbrach der Mann sie. "Unser aller Leben, sagst du. Um uns zu bedrohen, müsste dieses Mädchen erst einmal wissen, dass es uns gibt und wo wir zu finden sind. Und das dürfte schon ihr Problem sein."
"Glaubst du wirklich, dass niemand etwas von eurer Existenz weiß?", forderte Shilané den Mann heraus. "Ihr wart noch nie außerhalb eurer Mauern tätig? Für niemanden?"
"Worauf willst du hinaus?", fragte eine Frau neugierig, der Shilanés Andeutungen gar nicht gefielen.
"Soweit ich informiert bin, gab es eine Zeit, in der die Magus der Bevölkerung geholfen haben, oder habe ich da etwas falsch in Erinnerung."
"Sie hat recht", stimmte ein weiterer Mann ihr zu. "Damals, nach dem großen biochemischen Krieg, als das Boden verseucht war, es kein Wasser gab, da haben wir uns für die Menschen in vielen Teilen des Landes eingesetzt und mit unseren Fähigkeiten dafür gesorgt, dass auf ihren Feldern Nahrung wuchs und ihre Tiere getränkt werden konnten."
"Das ist lange her. Daran wird sich niemand mehr erinnern. Und selbst wenn, wie sollte diese kleine Hexe ausgerechnet auf jemanden treffen, der ihr davon erzählt?"
"Und warum sollte dieses Mädchen nicht jemanden begegnen, der davon berichtet? Du kannst nicht einfach sagen, das passiert nicht. Wenn wir behaupten, es würde nicht so sein und dann geschieht es doch, was willst du dann machen?", gab eine weitere Person im Raum zu bedenken.
"Dann müsste diese Mutantin uns erst noch finden", argumentierte der scheinbar selbsternannte Redner der Gruppe dagegen.
"Und ob sie euch finden wird", schaltete sich jetzt wieder Shilané ein. "Ihre Mutanten haben ganz andere Fähigkeiten, als wir Magus. Wir können nur die vier Elemente beherrschen, sie besitzt aber Menschen, wie zum Beispiel Telepathen, die über endlose Weiten Gedanken lesen können. Fernorter, die über das Magnetfeld der Erde Veränderungen wahrnehmen. Mutanten, die wie wir, Geräusche aus großer Entfernung hören und sortieren, die Frequenzen und ihre Modifikation erkennen. Soll ich noch mehr aufzählen? Diese Metamenschen besitzen viel mehr Fertigkeiten, als wir. Es muss sie nur jemand in die richtige Richtung drehen, dann können diese Leute uns erahnen. Willst du dich und deine Leute dieser Gefahr aussetzen?"
"Ich habe schon verstanden, Shilané. Aber du hast es eben selbst gesagt. Diese Metamenschen, wie du sie nennst, besitzen ganz andere Fertigkeiten, gegen die wir nichts ausrichten können. Die vier Elemente geben nicht viel her. Das ist lächerlich."
"Wenn jeder für sich kämpft, ja. Deswegen müssen wir uns alle zusammenfinden und gemeinsam bereit sein, wenn der Tag kommt. Und ganz ehrlich, ganz so unbedarft sind wir auch nicht. Wenn sie mit ihrer Armee anrückt, können wir den Boden unter ihren Füßen öffnen und ihn über ihren Köpfen wieder schließen. Ist das etwa nichts? Wir können mit einem brennenden Streichholz in der Hand ungeheure Feuerwalzen auf sie nieder schicken. Mit dem Wasser aus der Erde errichten wir meterhohe Flutwellen, die sie davon spülen werden. Habt ihr denn ganz vergessen, wie wir unsere Fähigkeiten anwenden? Fehlt euch die Fantasie, die Elemente so zu nutzen, dass sie uns zu unserer Verteidigung dienen?" Shilané hob die Arme und die Schultern seitlich halb hoch und blickte alle Anwesenden mit einem fragenden bis auffordernden Gesichtsausdruck an. Es entstand eine lange Pause, in der sich die Männer und Frauen unsicher anschauten und nach einer Antwort suchten. Im Innersten wussten einige von ihnen, dass dieses junge Mädchen vollkommen richtig lag. Doch keiner wollte es vor dem anderen zugeben. Die Furcht war einfach zu groß. Doch sie wussten auch, die Angst würde zur Panik werden, wenn diese Ysana erst einmal mit ihren Gefolgsleuten vor ihren Toren stand und sie nicht bereit waren.