1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Da ich Gryce kannte, so fühlte ich, daß nichts schlimmer und bezeichnender war als jene durchsichtige Nichtbeachtung einer Person, welche das Gemach mit ihrer Angst und Pein anzufüllen schien. Von Mitleid ergriffen, vergaß ich, daß Mary Leavenworth gesprochen hatte, vergaß sogar ihre Anwesenheit, und indem ich mich umwandte, trat ich einen Schritt auf ihre Cousine zu.
Da fiel Gryces Hand auf meinen Arm und gebot ein Halt. »Fräulein Leavenworth spricht mit Ihnen,« sagte er.
Das brachte mich zur Besinnung. Ich wandte derjenigen, die mich so interessiert hatte, obwohl sie mich abstieß, den Rücken, stotterte der Schönen vor mir eine Entschuldigung, bot ihr meinen Arm und geleitete sie zur Thüre.
Sogleich milderte sich der Ausdruck in dem blassen, stolzen Antlitz Mary Leavenworths fast bis zu einem Lächeln, – und ich habe niemals ein Weib gesehen, das so lächeln konnte und gelächelt hat wie Mary Leavenworth. Sie schaute mich mit offener, rührender Bitte an und murmelte: »Sie sind sehr gütig; ich fühle das Bedürfnis einer Stütze, der Anlaß ist gar zu schrecklich, und meine Cousine dort,« – dabei sprach eine innere Unruhe aus ihren Augen – »ist heute so seltsam.«
»Wo,« dachte ich bei mir, »ist die gewaltige, entrüstete Prophetin mit dem unbeschreiblichen Zorn und der stolzen Drohung in Miene und Haltung, wie ich sie beim ersten Betreten ihres Zimmers erblickte? Versucht sie jetzt etwa, uns von unserem Argwohn abzuleiten, oder ist es möglich, daß sie sich so sehr selbst täuscht, um zu glauben, die furchtbare Anklage, die wir in jenem kritischen Moment hörten, habe keinen Eindruck auf uns gemacht?«
Bald aber nahm Eleonore Leavenworth, die sich auf den Arm des Detektivs lehnte, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Auch sie hatte mittlerweile ihre Selbstbeherrschung wiedererlangt, wenn auch nicht so vollständig wie ihre Cousine; ihr Fuß wankte, als sie zu gehen versuchte, und die auf Gryces Arm ruhende Hand zitterte wie Espenlaub.
»Wollte Gott, ich hätte dieses Haus nie betreten!« sagte ich zu mir, und doch war ich merkwürdigerweise auch wieder dankbar, daß gerade ich und kein anderer in dieses Geheimnis eingedrungen war und jene schwerwiegende Aeußerung gehört hatte. Nicht etwa, daß meine Seele die geringste Nachsicht gegen jene Schuld empfunden hätte; niemals war mir das Verbrechen so schwarz entgegengetreten, niemals waren mir Rache, Selbstsucht, Haß, Habgier abscheulicher erschienen, und doch, – aber wer vermag es, seine Gefühle in solchen Momenten zu zergliedern?
Genug, indem ich die schwankenden Schritte des einen Mädchens stützte, während mein Interesse sich zu dem andern hingezogen fühlte, stieg ich die Treppe des Leavenworthschen Hauses hinab und betrat wieder den Saal, in welchem die gefürchteten Inquisitoren des Gesetzes ungeduldig unseres Erscheinens harrten.
Als ich die Schwelle überschritt und die gespannten Gesichter derer erblickte, die ich vor kurzer Zeit verlassen hatte, kam es mir vor, als seien Jahre dazwischen verflossen. So viel kann ein Menschenherz in der kleinen Spanne weniger, hochbedeutsamer Minuten erfahren.
Siebentes Kapitel.
Mary Leavenworth.
Wer hätte nicht schon die Wirkung des Sonnenlichtes beobachtet, welches hinter einer schweren, schwarzen Wolkenmasse plötzlich über die Erde hereinbricht? So ungefähr war der Eindruck, den die beiden schönen Damen bei ihrem Eintritt in den Saal hervorriefen. Sie hätten in jeder Versammlung die bewundernden Blicke aller Anwesenden auf sich gelenkt; in einem weit höheren Grade mußte dies hier geschehen, inmitten dieser furchtbaren Tragödie und unter Männern solchen Schlages!
Ich führte meine zitternde Gefährtin nach der entlegensten Ecke, die ich auffinden konnte, und sah mich dann nach ihrer Cousine um, – doch Fräulein Eleonore, so schwach sie mir oben in ihrem Zimmer erschienen war, zeigte jetzt weder Zaudern noch Verlegenheit. Auf den Arm des Detektivs gestützt, trat sie vor und betrachtete einen Augenblick die sich vor ihr entfaltende Szene, dann verneigte sie sich vor dem Coroner mit einer Anmut und Herablassung, welche diesen sofort auf denselben Fuß mit einem höflich geduldeten Eindringling in dieses vornehme Haus zu stellen schien, nahm einen Lehnstuhl ein, den ihr die Dienerinnen eilig herbeibrachten, und entwickelte überhaupt eine Unbefangenheit und Würde, welche mehr an die Triumphe einer Dame im Salon als an das Benehmen einer Schuldbewußten vor dem Untersuchungsrichter erinnerten.
Es war dies offenbar ein Theatercoup; aber er verfehlte seine Wirkung nicht. Sofort verstummte das Geflüster, die lästigen Blicke senkten sich, und auf den Gesichtern aller Anwesenden zeigte sich etwas wie ein erzwungener Respekt.
Selbst ich, der ich doch noch den Eindruck ihres vorherigen, gänzlich verschiedenen Benehmens empfand, hatte ein Gefühl der Erleichterung. Desto unangenehmer überraschte es mich, als ich das Auge der neben mir sitzenden Dame mit einem fragenden Ausdruck auf ihre Cousine gerichtet sah, der mich keineswegs ermutigte.
Da ich die Wirkung dieses Blickes auf die Umgebung fürchtete, ergriff ich Mary Leavenworths Hand, die, krampfhaft geballt, über die Lehne des Stuhles hing, und wollte sie eben ermahnen, vorsichtig zu sein, als ihr Name, der vom Coroner ausgesprochen wurde, sie aus ihrer Versunkenheit erweckte. Schnell wandte sie das Auge von ihrer Cousine, erhob den Blick zur Jury, und ich sah denselben so kühn und entrüstet aufleuchten wie bei unserer ersten Begegnung. Doch dieser Blitz erlosch wieder, und mit dem Ausdruck großer Bescheidenheit machte sie sich bereit, der Aufforderung des Coroners nachzukommen und die wenigen einleitenden Fragen zu beantworten.
Niemand vermag sich die Angst, die ich in diesem Moment fühlte, auszumalen. Freilich sah sie jetzt sanft aus; aber ich hatte es erfahren, daß sie eines gewaltigen Zornausbruches fähig war. Würde sie wohl jetzt ihren Verdacht wiederholen? – haßte sie ihre Cousine ebenso sehr, wie sie ihr mißtraute? – würde sie es wagen, in dieser Versammlung und vor der Welt zu behaupten, was sie in der Zurückgezogenheit ihres eigenen Gemaches und vor den Ohren der einzigen Person geäußert hatte, welche es betraf?
Ihr Antlitz verriet mir nichts von ihrer Absicht, und in meiner Angst schaute ich noch einmal nach Eleonore hin. Diese befand sich in einer Furcht und Aufregung, die ich leicht begriff; bei dem ersten Anzeichen, daß ihre Cousine sprechen wollte, war sie entsetzt zurückgewichen, und jetzt saß sie so da, daß man ihr Gesicht nicht erblicken konnte; aber ihre Hände hatten die Blässe des Todes.
Mary Leavenworths Zeugnis war kurz. Nach einigen Fragen, die sich meist auf ihre Stellung im Hause und ihr Verhältnis zu dem Ermordeten bezogen, wurde sie aufgefordert zu erzählen, was sie von dem Morde selbst und seiner Entdeckung durch ihre Cousine und die Dienerschaft wußte.
Indem sie ihre Stirn erhob, die noch kein Schatten einer Sorge oder eines Kummers getrübt zu haben schien, und ihre Stimme ertönen ließ, die, obwohl leise und sanft, dennoch mit Glockenton durch den Saal klang, entgegnete sie: »Sie legen mir da eine Frage vor, meine Herren, die ich aus eigener Anschauung nicht beantworten kann; von dem Morde und seiner Entdeckung weiß ich nichts, als was mir von andern berichtet worden ist.«
Mein Herz hüpfte vor Freude und Erleichterung; ich sah Eleonores Hände von ihrer Stirn niederfallen, während ein Hoffnungsschimmer über ihr Gesicht glitt und wieder erlosch wie ein Sonnenstrahl, der über Marmor flieht.
»So sonderbar es Ihnen erscheinen mag,« fuhr Mary ernst fort, und wieder verdüsterte ein Schatten ihr Antlitz, »ich habe das Zimmer noch nicht betreten, in welchem mein Onkel liegt; mein Gefühl gebot mir, zu meiden, was so entsetzlich und herzzerreißend ist; aber Eleonore ist dort gewesen und kann Ihnen sagen –«
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