Und doch ist der Bann der Ungewißheit so mächtig, daß, obwohl die Mienen vieler der Anwesenden meine eigenen Gefühle wiederspiegelten, kein einziger aus der ganzen Versammlung die Absicht verriet, sich zu entfernen, am allerwenigsten ich.
Der Coroner, auf welchen die Anmut Marys zu Eleonorens offenbarem Nachteil einen so guten Eindruck hervorgebracht hatte, war der einzige im ganzen Saal, der sich in diesem Moment unbewegt zeigte; er wandte sich der Zeugin mit einem Blicke zu, der zwar achtungsvoll war, aber doch etwas Strenges hatte, und begann: »Sie sind von Ihrer Kindheit an ein Mitglied der Familie Leavenworth gewesen?«
»Von meinem zehnten Jahre an,« lautete die Antwort.
Es war das erste Mal, daß ich ihre Stimme hörte, und es überraschte mich, daß dieselbe derjenigen ihrer Cousine so ähnlich und doch auch wieder so unähnlich klang; gleich im Ton, fehlte ihr, sozusagen, das Modulationsfähige, sie traf das Ohr ohne Vibration und verklang ohne Widerhall.
»Seit jener Zeit sind Sie wie eine Tochter behandelt worden?«
»Jawohl, mein Herr, wie eine Tochter; kein Vater hätte mehr für uns thun können.«
»Sie und Fräulein Mary Leavenworth sind Cousinen, glaube ich. Wann ist letztere in die Familie eingetreten?«
»Zu derselben Zeit als ich, unsere beiderseitigen Eltern waren Opfer des nämlichen Unglücks; hätte sich der Onkel nicht unserer angenommen, so wären wir als Kinder in eine fremde Welt geschleudert worden. Aber er –« hier hielt sie inne, und ihre feinen Lippen zitterten merklich, – »er nahm uns in der Güte seines Herzens in seine Familie auf und gab uns, was wir beide verloren hatten, – einen Vater und eine Heimat.«
»Sie sagen, er sei Ihnen sowohl als auch Ihrer Cousine ein Vater gewesen, er habe Sie beide adoptiert; wollen Sie damit andeuten, daß er Sie nicht nur mit dem gegenwärtigen Luxus umgab, sondern daß er Ihnen dasselbe auch für die Zukunft in Aussicht stellte, mit einem Wort, daß er beabsichtigte, Ihnen einen Teil seines Vermögens zu hinterlassen?«
»Nein, mein Herr! Er gab mir von Anfang an zu verstehen, daß sein Besitztum dereinst auf meine Cousine übergehen würde.«
»Ihre Cousine war ihm nicht näher verwandt als Sie selbst, Fräulein Leavenworth. Hat er nicht einmal einen Grund für diese Parteilichkeit angegeben?«
»Nur seine Vorliebe, mein Herr.«
Ihre Antworten über diesen Punkt waren so kurz und befriedigend gewesen, daß an Stelle der unbehaglichen Zweifel, welche von Anfang an den Namen und die Person dieses Mädchens umschwebt hatten, ein allmählich wachsendes Zutrauen trat. Bei dieser Aussage zumal, die mit so ruhiger leidenschaftsloser Stimme abgegeben wurde, fühlte die Jury sowohl wie ich, der ich doch mehr Grund zum Argwohn hatte, daß der bisher gehegte Verdacht bei einem so gänzlichen Fehlen eines Motives zur That, wie jene Aeußerung bekundete, sehr stark erschüttert werden mußte.
Mittlerweile fuhr der Coroner fort: »Wenn Ihr Oheim alles das für Sie that, was Sie mir erzählt haben, so empfanden Sie wohl eine große Zuneigung zu ihm?«
»Jawohl,« entgegnete sie, und um ihren Mund lagerte sich ein Zug großer Entschiedenheit.
»Sein Tod muß also ein schwerer Schlag für Sie sein?«
»So ist es.«
»Schwer genug, um Sie beim ersten Anblick der Leiche in Ohnmacht sinken zu lassen.«
Eleonore nickte stumm mit dem Kopf.
»Und doch schienen Sie darauf gefaßt zu sein.«
»Gefaßt?«
»Die Dienstboten sagen, Sie wären sehr aufgeregt gewesen, als Ihr Onkel beim Frühstück nicht erschien.«
»Die Dienstboten?« Ihre Zunge schien ihr am Gaumen zu kleben; sie war kaum im stande zu sprechen.
»Als Sie aus dem Bibliothekzimmer zurückkehrten, sollen Sie sehr blaß gewesen sein.«
Begann sie es zu ahnen, daß in dem Geiste des Mannes, der sie mit solchen Fragen angriff, ein Zweifel über sie oder gar ein wirklicher Verdacht bestand? So aufgeregt hatte ich sie seit jenem denkwürdigen Moment im oberen Zimmer nicht gesehen; doch ihr Mißtrauen, wenn sie überhaupt ein derartiges Gefühl hegte, konnte von keiner langen Dauer sein. Mit sichtbarer Anstrengung beherrschte sie sich und antwortete mit ruhiger Handbewegung: »Das ist nichts Auffallendes, mein Oheim war ein sehr methodischer Mann, die geringste Veränderung in seinen Gewohnheiten würde bei uns sicherlich Befürchtungen hervorgerufen haben.«
»Sie waren also beunruhigt?«
»Bis zu einem gewissen Grade – ja.«
»Wer hat die Oberaufsicht über die Gemächer Ihres Onkels, Fräulein Leavenworth?«
»Ich, mein Herr.«
»Dann kennen Sie auch ohne Zweifel einen gewissen Toilettentisch, der in seinem Schlafzimmer steht und ein Schubfach enthält?«
»Gewiß.«
»Wie lange ist es her, daß Sie an jenes Schubfach gegangen sind?«
»Gestern.« Sie zitterte merklich bei diesem Geständnis.
»Um welche Zeit?«
»Um die Mittagsstunde – soviel ich weiß.«
»Lag der Revolver, welchen er besaß, zu jener Zeit an seiner gewohnten Stelle?«
»Ich glaube wohl, beachtet habe ich es nicht.«
»Drehten Sie den Schlüssel um, als Sie das Schubfach öffneten?«
»Jawohl.«
»Zogen Sie den Schlüssel heraus?«
»Nein, mein Herr.«
»Fräulein Leavenworth, der Revolver, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben werden, liegt vor Ihnen auf dem Tisch; wollen Sie ihn gefälligst einmal ansehen?« Er nahm die Waffe auf und reichte sie ihr hin.
Wenn er die Absicht gehegt hatte, sie durch diese plötzliche Aufforderung zu erschrecken, so hatte er seinen Zweck vollkommen erreicht. Beim ersten Anblick der mörderischen Waffe schrak sie zurück, und ein entsetzter, aber schnell unterdrückter Aufschrei entfuhr ihren Lippen. »O nein! nein!« stöhnte sie, mit den Händen abwehrend.
»Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich den Revolver ansehen, Fräulein Leavenworth,« beharrte der Coroner; »als man ihn fand, waren alle Kammern geladen.«
Sofort wich der Ausdruck des Schreckens von ihrem Antlitz. »O dann –« Sie sprach nicht weiter, sondern streckte die Hand nach der Waffe aus.
Der Coroner jedoch, sie fest ansehend, fuhr fort: »Trotzdem ist vor kurzer Zeit aus demselben gefeuert worden. Die Hand, welche den Lauf reinigte, vergaß die Patronenkammer, Fräulein Leavenworth.«
Sie schrak nicht wieder zurück; aber ein hoffnungs- und hilfloser Ausdruck legte sich über ihr Antlitz, und sie schien dem Umsinken nahe. Doch schnell kam die Reaktion, und sie erhob das Haupt mit einer Kraftanstrengung, wie ich sie noch niemals bei einem Weibe beobachtet hatte; dann rief sie aus: »Nun – und was soll das?«
Der Coroner legte den Revolver hin; Männer und Frauen schauten einander an, und alles schien vor dem zu bangen, was jetzt folgen würde.
Ich hörte einen zitternden Seufzer an meiner Seite, und als ich mich umwandte, sah ich, wie Mary mit heißem Erröten nach ihrer Cousine hinstarrte, als würde sie sich jetzt erst der Thatsache bewußt, daß außer ihr noch andere fühlten, wie ein gewisses Etwas Eleonore umschwebte.
Endlich fand der Coroner den Mut fortzufahren: »Sie fragen mich. Fräulein Leavenworth, was das soll? Darauf muß ich Ihnen erwidern, daß kein Einbrecher, kein gedungener Meuchelmörder sich dieses Revolvers zu seiner That bedient und sich dann die Mühe genommen haben würde, denselben nicht nur zu reinigen, sondern auch von neuem zu laden und ihn wieder in das Schubfach zu schließen, aus welchem er ihn genommen hatte.«
Sie gab darauf keine Antwort; aber ich sah, wie Gryce sich mit einem bedeutsamen Nicken des Kopfes eine Notiz machte.
»Auch würde es,« fügte der Coroner noch ernster hinzu, »für jemanden, der nicht daran gewöhnt war, zu allen Stunden in Herrn Leavenworths Zimmer aus- und einzugehen, unmöglich gewesen sein, so spät in der Nacht in das Zimmer des Verstorbenen zu gelangen, sich den Revolver von dem Aufbewahrungsorte zu nehmen, das Gemach zu durchschreiten und Herrn Leavenworth so nahe zu schleichen, wie dies laut Feststellung des Thatbestandes geschehen sein muß, ohne ihn zu veranlassen, wenigstens den Kopf nach einer Seite zu wenden. Das kann er nach der Erklärung des Doktors nicht gethan haben.«
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