»Hier ist das Boot gekentert. Kannst du dir vorstellen, das Fearghas dort rüber geschwommen ist? – Also, wenn ihn kein Boot mitgenommen hat, halte ich es doch bei stürmischem Wetter eher für unwahrscheinlich.«
Ich folgte dem Blick meiner Mutter. Sie hatte Recht. Die hauptsächlich aus grauen Felsen bestehende Insel war schon für einen Schwimmer ganz schön weit. Und Fearghas beharrte darauf, dass er sogar noch weiter geschwommen war. Ich verstand die Zweifel meiner Mutter und die der Polizei. Dennoch sagte ich:
»Er ist halt ein durchtrainierter Schwimmer und kennt die Gewässer.«
Meine Mutter winkte wortlos ab. Das Thema schien damit, vorerst für sie beendet zu sein. Finn und mein Vater hatten sich zwischenzeitlich wieder gesetzt und die Angeln ausgeworfen, die wir im Schlepp hinter uns herzogen. Die beiden hatten die Hoffnung, so unser Abendessen fangen zu können, doch leider vergeblich!
»Da!«, schrie meine Mutter plötzlich hysterisch und zeigte fuchtelnd hinter unser Boot. »Schweinswale!«
Einige Meter entfernt tauchten immer wieder die kurzen runden Rücken der doch recht kleinen Tiere auf und bescherten uns eine mittlere Panik. Wir konnten unser Glück kaum fassen, tatsächlich auch noch Schweinswale zu sehen. Als sie so schnell wieder verschwunden waren, wie sie aufgetaucht waren, tuckerten wir rundum zufrieden wieder nach Hause; wenn auch leider ohne Abendessen.
Schon von weitem konnte ich Adam erkennen, der auf dem Steg stand und wie verabredet auf uns wartete.
»Wart ihr erfolgreich?«, fragte er und nahm das Tau entgegen, das meine Mutter ihm reichte. Mit geübten Bewegungen befestigte er unser Boot und half uns beim Ausladen.
»Oh, wir haben Seehunde und Schweinswale gesehen!«, rief Finn und sprang mit einem riesigen Satz auf den Steg.
»Aber leider keine einzige Makrele gefangen.« Meine Mutter folgte erheblich vorsichtiger. Kritisch betrachtete sie den Steg, bevor sie ihn betrat, als könnte er sich plötzlich abrupt zur Seite neigen und sie ins Wasser schubsen.
»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Adam zuversichtlich und nahm uns das Angelzeug ab. Ich nahm die Schwimmwesten und lief zum Bootshaus, um sie dort zu verstauen. Als ich heraustrat, prallte ich gegen einen Mann, der unversehens vor mir auftauchte.
»Oh, Verzeihung«, murmelte er und räusperte sich. »Gehören Sie zum Bootsverleih?«
»Nein. Tut mir leid. Ich bin nur Feriengast«, antwortete ich und schob mich an ihm vorbei. Der Mann wandte sich langsam um und sah kurz zu Adam hinüber, der mit meinen Eltern auf dem Steg stand und sich unterhielt. Er war groß mit einer sportlich schlanken Statur und trug über einer schwarzen Jeans einen modischen Blazer.
»Vielleicht können Sie trotzdem helfen und eine Frage beantworten?«
Er lächelte mich an. Er war sicherlich als gutaussehend zu bezeichnen. Für sein Alter jedenfalls. Er mochte um die dreißig Jahre alt sein. Ein Grübchen wanderte in seine Wange und ließ sein männlich geschnittenes Gesicht verschmitzt aussehen. Doch mir entging nicht, dass das Lächeln nicht seine dunklen Augen erreichte und einfach nur eingeübt geschäftsmäßig wirkte. Er musterte mich und schien beschlossen zu haben, dass ich nicht gesiezt werden musste. »Weißt du«, fuhr er fort, »ob das Boot, das draußen gekentert sein soll, von hier stammte?«
Ich wusste nicht wieso, aber irgendetwas ließ mich plötzlich vorsichtig werden. Die Art, wie er immer wieder zu Adam hinübersah. Es wirkte auf mich, als wusste dieser Mann ganz genau, dass er nur ihn zu fragen brauchte, es aber aus irgendeinem Grund nicht tat.
Ich machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf:
»Nein, das Boot kam nicht von hier!« Und das war ja auch im Grunde genommen keine Lüge. Fearghas war hier lediglich von seinen Freunden abgeholt worden. »Wieso möchten Sie das denn wissen?«
»Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Verzeihung!« Der Mann lächelte erneut. Wieder tauchte das Grübchen auf. Seine dunklen Augen waren von langen gebogenen Wimpern umrahmt und erinnerten mich wage an Fearghas. Wieder eine Verschwendung an einen Mann, die eher einer Frau zugestanden haben sollte. »Mein Name ist Sean McDougal. Ich arbeite für die hiesige Zeitung und wollte den Jungen interviewen, der durch das Loch geschwommen sein soll, um Hilfe für seine Freunde zu holen.«
»Hier gibt es keinen Jungen«, log ich diesmal unverfroren. »Die Söhne von Adam sind schon erwachsen und nicht mehr hier.«
»Oh, wie schade.« Der Reporter sagte es so, als wollte er sagen: »Ich glaube dir kein Wort, du kleine Lügnerin«, aber das war vielleicht auch nur meinem schlechten Gewissen zuzuschreiben, dass gerade vorwurfsvoll mit dem Finger auf mich zeigte. »Dann werde ich mich wohl woanders umhören müssen.«
»Ja, sieht so aus«, sagte ich und biss mir auf die Lippen. Adam kam jetzt mit meinen Eltern den Steg herunter. Hoffentlich entlarvte mich gleich niemand von ihnen als Lügner.
Doch diese Sorge war unbegründet. Auch dem Reporter war nicht entgangen, dass Adam auf das Bootshaus zukam. Mit einem knappen Nicken verabschiedete er sich und schlenderte betont lässig davon.
Ich sah ihm hinterher, bis er verschwunden war. Eine kleine Stimme in meinem Inneren flüsterte mir mit leichter Paranoia zu, dass dieser Mann dort niemals ein Reporter gewesen sein konnte. Doch bevor ich mich näher mit diesem Gedanken befassen konnte, riss Finn mich von diesen fort. Wie ein Sack ließ er sich rücksichtslos neben mich auf die Bank plumpsen, auf die ich mich inzwischen gesetzt hatte.
»Wir gehen jetzt ins Haus. Ich bin total kaputt«, seufzte er mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht.
»Ach, ich bleibe noch eine Weile hier und werde lesen. Es ist zu schön hier.«
»Bleib nicht zu lange«, sagte mein Vater, der dazu trat. »Komm nach Hause, bevor es dunkel wird.«
»Ja, ist gut.«
Auch ihnen sah ich eine Weile hinterher. Meine Eltern liefen Hand in Hand mit Finn den Weg zurück. Ich konnte ihnen förmlich ansehen, dass sie sich hier wohl fühlten. Eine zufriedene Ausstrahlung ging von ihnen aus, die ich in jeder Geste sehen konnte. Und auch ich musste zugeben, dass Schottland anscheinend gar nicht so schlecht war. Meine Abneigung hatte schon unter dem herzlichen Empfang von Adam und Mairee zu bröckeln begonnen. Ganz zu schweigen von der wirklich schönen Gegend. Auch ich konnte mich nicht der Faszination entziehen, die das Loch mit seinen grünen Inseln und den gewaltigen Berghängen vom gegenüberliegenden Ufer auf mich ausübte.
Ich nahm mein Buch und ging bis zum Ende des Steges. Dort zog ich meine Schuhe aus und setzte mich. Langsam ließ ich meine Füße mit angehaltenem Atem in das kalte Wasser gleiten. An dieser Stelle war das Wasser völlig dunkel. Bereits am Steg fiel der Grund des Lochs auf zehn Meter Tiefe ab. Ich sah über die glatte Fläche. Wie tief mochte es weiter draußen wohl sein, und was trieb sich in der Dunkelheit alles herum? Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich, aber ich ließ meine Füße, die ich gerne an mich gezogen hätte, wo sie waren. Ich wollte mich nicht von meiner Fantasie beeindrucken lassen.
Für eine Weile saß ich nur da und genoss die Einsamkeit und die Stille. Lediglich das leise Gluckern des Wassers, das leicht gegen das Metall des Steges schlug, war zu hören. Neugierig betrachtete ich die zwei Segelboote, die etwas weiter draußen lagen. Die kleine Bucht bot wirklich einen gut geschützten Ankerplatz. Ob jemand auf den Booten schlief? Für den Moment schien ich jedenfalls völlig alleine zu sein. Zufrieden nahm ich mein Buch und begann zu lesen. Gerade geriet der Held in Gefahr. Die Spannung überlief mich mit einem Schauer, als sich plötzlich etwas um meinen rechten Knöchel legte und mich, wie mit einem Schraubstock festhielt. Mein Herz setzte aus. Ich schrie!
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