Meine Familie und ich fuhren nach Oban, einer hübschen Stadt, die direkt an der Küste lag, und mit vielen Geschäften und Cafés lockte. Meine Mutter stürmte die Touristeninformation und stopfte jeden Flyer, für den sie nichts zu bezahlen brauchte, in ihren übergroßen Rucksack.
»Oh, sieh mal, Markus«, rief sie nach meinem Vater und deutete auf ein Plakat an der Wand, auf der ein Seehundbaby abgebildet war. »Hier bekommen wir die Karten für den kleinen Zoo zehn Pfund billiger. Lass uns gleich welche mitnehmen. Wir wollten doch sowieso die Tage da hin.«
Mein Vater nickte und ging zum Schalter, während meine Mutter weiterhin Flyer einpackte, als könnte sie uns damit die nächsten vierzehn Tage verpflegen. Hochrot im Gesicht schleppte sie den schweren Rucksack dann später durch die vielen Gassen. Aber sie verlor darüber kein Wort. Ich wusste bereits jetzt, dass sie den Nachmittag damit verbringen würde, die Flyer zu studieren und anschließend zu einem wandelnden Reiseführer mutierte, der die Gegend in- und auswendig kannte.
Als wir zurück zu unserem Ferienhaus gelangten, parkte ein Polizeiauto im Hof der Farm. Ein Polizist stand mit Fearghas und Adam vor der Haustür. Alle drei sahen flüchtig auf und unterhielten sich dann weiter. Während meine Familie ins Haus ging, blieb ich vor dem Gartenzaun stehen. Nur beiläufig streichelte ich Dee und Etive, die wieder zur Begrüßung heranstürmten und ihre Nasen fordernd in meine Handflächen vergruben. Viel mehr interessierte mich, worüber sich die Männer unterhielten. Adam sagte etwas zu seinem Sohn, der daraufhin wütend den Kopf schüttelte: »Wie ich bereits mehrfach sagte, ich bin einfach nur nach Hause geschwommen.«
„Aber es war spät am Abend, ein Gewitter zog herauf und die Insel, auf der die Jungs festsaßen, ist verdammt weit draußen für einen Schwimmer.“ Der Polizist notierte sich etwas in ein Notizbüchlein, während er sprach. Dann stemmte er die Arme in die Seiten. „Hör zu, Junge. Das wäre schon bei ruhigem Wasser eine lange Strecke. Mit dem Boot ist es eine gute halbe Stunde.“
„Das Wasser war eigentlich ruhig. Nur die Idioten waren einfach zu blöd und mussten ja unbedingt die Seehunde jagen. Ich jedenfalls hatte keine Lust auf der Insel mit ihnen zusammen festzuhängen, nachdem das Boot umgekippt ist, und bin in unsere Bucht geschwommen. Was anderes habe ich nicht zu sagen. Und ich habe auch nicht das Boot umgeworfen, falls Sie auf diese Idee kommen sollten.“
»Nein!«, der Polizist hob abwehrend die Hände und lachte. »Das halte ich dann doch eher für unmöglich. Dann könnte ich genauso gut behaupten, ein Selkie hat den Sturm über die Jungs gerufen, weil sie die Seehunde bedroht haben.« Er steckte das Notizbuch in seine Brusttasche und hielt Fearghas und Adam die Hand hin, um sich zu verabschieden. »Nun gut, Fearghas, da sich die anderen Jungs Sorgen um deinen Verbleib gemacht haben, musste ich für meinen Bericht wissen, wie du hierhergekommen bist. Aber wenn du bei deiner Geschichte bleibst ...«, er zuckte mit den Schultern, » … dann werde ich es so in meinen Bericht schreiben. Einen schönen Tag noch.« Damit tippte er grüßend, gegen den Schirm seiner Dienstmütze, stieg in sein Auto und fuhr davon. Fearghas und Adam sahen ihm nach, dann gingen sie in ihr Haus, ohne mich zu beachten.
War er wirklich am Abend eine Strecke geschwommen, für die man mit dem Boot bereits dreißig Minuten brauchte? Das würde zumindest erklären, warum er gestern vollkommen durchnässt war und vielleicht auch seine Wut. Nachdenklich ging ich ins Haus.
*
Den Rest des Tages bekam ich Fearghas nicht mehr zu Gesicht. Auch als wir später am Abend wieder zum Anleger gingen, weil mein Vater und mein Bruder dort noch angeln wollten, war er weit und breit nicht zu sehen. Also setzte ich mich dort auf eine Bank, die im Schatten eines großen Baumes stand, und holte mein Buch heraus. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass der Held des Buches eine Art Wassermann war, der natürlich schwimmen konnte wie ein Fisch. Nachdenklich sah ich auf das Wasser und versuchte mir Fearghas als Meermann mit Fischschwanz vorzustellen, mit dem er locker die größten Wellen durchpflügte.
»Na, von wem träumst du denn?«
Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meinem Tagtraum zurück. Ich kicherte verlegen und schüttelte den Kopf. Doch meine Mutter warf einen Blick auf das Buch in meiner Hand. Sie hatte es vor mir gelesen und nickte lächelnd.
»Hier könnte man sich wirklich einen Wassermann vorstellen. Wenn nicht hier, wo dann?« Dann holte sie ein Blatt Papier hervor, auf dem ein kleiner Teil des Lochs aufgezeichnet war, genauer gesagt, die nähere Umgebung des Hafens.
»Adam hat uns diese Karte gezeichnet, damit wir morgen eine Bootstour machen können.« Sie fuhr mit der Fingerspitze einmal über die Karte und tippte auf ein paar kleinere Inseln. »Dort gibt es ganz viele Seehunde, und hier ist wohl das Boot von Fearghas und seinen Freunden umgekippt.« Jetzt fuhr sie den ganzen Weg auf der Karte wieder zurück bis zu unserer Bucht. »Er ist also einen erstaunlich langen Weg zurückgeschwommen. Da kann man schon mal an Wassermänner glauben, nicht wahr?« Ihre blauen Augen blitzten begeistert. Meine Mutter liebte solche Ideen und hatte mir erzählt, dass sie sogar fest an die Existenz von Nessie glaubte.
Skeptisch sah ich in die Richtung, in der die Inseln liegen mussten, die aber von hier nicht zu sehen waren, zum Teil, weil sie von der gegenüberliegenden Insel verdeckt wurden. Ich konnte mir schon kaum vorstellen bis zum anderen Ende der Insel zu schwimmen, geschweige denn weiter.
»Vielleicht ist er aber auch nur von hier«, ich deutete auf die Inseln der Seehunde, »bis zu der Insel dort geschwommen. Dann ist er über die Insel gelaufen und nur wieder den Rest zu unserem Anleger herüber?«
»Wäre trotzdem noch weit, findest du nicht?«
»Es gibt keine Wassermänner, weißt du?«, sagte ich und sah sie zweifelnd von der Seite an. Ich war mir nicht sicher, wie ernst es ihr war. »Vielleicht ist er einfach nur ein guter Schwimmer. Hast du mal seinen Oberkörper gesehen? Er sieht aus wie einer dieser Olympiaschwimmer.«
»Ja, habe ich. Ich bin zwar viel älter als du, aber blind bin ich deswegen noch nicht.« Sie zwinkerte mir vergnügt zu und scheuchte mit ihrem Buch eine lästige Mücke davon. Ich warf einen erstaunten Blick auf den Titel. »Mein Herz für den Hochländer?«, fragte ich. Sie las zwar auch gerne Geschichten, die im Urlaubsland spielten, aber Kitschromane gehörten normalerweise nicht dazu.
»Es ist furchtbar«, gestand sie grimmig. »Aber jetzt lese ich es auch zu Ende.« Damit schlug sie es auf und begann zu lesen. Ich beobachtete sie dabei, wie ihre Augen über die Zeilen huschten und sie dabei immer wieder den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte. Dennoch las sie Zeile um Zeile tapfer weiter und vergaß mich und die leidigen Wassermänner.
*
Lustlos trabte ich meiner Familie am Morgen unseres dritten Tages hinterher. Adam hatte meinen Eltern eine Bootstour empfohlen, die an den Seehundinseln vorbeiführte. Mit etwas Glück sollten wir auch Schweinswale sehen können, die mit der Flut den Makrelenschwärmen ins Loch hinein folgen sollten. Da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen und mich die Aussicht auf ein paar niedliche Seehunde schon lockte, hatte ich mich nach einigem Hin und Her doch noch dazu durchgerungen, mitzufahren.
Als wir bei den Inseln ankamen, lagen dort unzählige Seehunde mit ihren Jungtieren, die sich augenblicklich ins Wasser stürzten, wenn wir zu nahe kamen. Verzweifelt versuchte ich, brauchbare Fotos mit meinem Handy zu schießen, was bei diesem Wellengang, wenn auch kaum einer da war, so gut wie unmöglich schien. Meine Mutter tippte mich an und zeigte auf die Insel, die in meinem Rücken lag. Während mein Vater und Finn sich gemeinsam aufstellten und unter leisem Gelächter aus dem Boot pinkelten, flüsterte sie:
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