„Wenn er etwas braucht, wird er sich schon melden. Nichts passiert von allein.“
Dorin dachte über die Worte nach. Als er hörte, wie sie sich leise entfernten, öffnete er seine Augen. Sehnsuchtsvoll schielte er zum Ausgang. Dann drehte er sein Ohr langsam und mit einem Blick auf seine Eltern lauschte er nach draußen. Die Wände aus Holz und Reisig. Sie hielten Geräusche eben so wenig ab wie die noch anhaltende Nachtkälte. Ein Holzscheit knackte laut am Lagerfeuer des Dorfplatzes und vermengte sich mit dem fröhlichen Lachen der alten Wichtelmänner, die um die Feuerstätte des kleinen Dorfes saßen. Seine Neugier wurde größer als die Angst vor der Schelte seiner Eltern. Warum sollte er warten, bis sie schliefen? Er konnte doch auch durch die aufgeschichteten Zweige nach draußen kriechen. Wozu gab es denn in jedem Bau drei Fluchtwege? War dies nicht der Grund dafür, dass seine Schlafstatt nicht neben den der Anderen lag? Es hatte sich nicht ergeben, neben den drei Schlafplätzen einen weiteren Fluchtweg zu bauen. Das Haus wäre zu instabil geworden! Es musste leicht sein, sich zwischen den Zweigen einen Weg zu bahnen! Unwillkürlich fragte er sich, warum ihm das nicht bereits früher eingefallen war.
Er schaute sich noch einmal zu seinen Eltern um. Beide waren mit dem Verbessern der Waschschüssel beschäftigt. Er wusste, dass sie tagsüber damit nach gelben Steinen suchten. Die waren zwar nicht bekömmlich wie die leckeren Beeren des Waldes, die die Eltern seines besten Freundes besorgten, jedoch war es als einziges Metall beständig gegen Rost. Er fand die Schmuckstücke, die seine Eltern daraus fertigten langweilig, wie alle aus seinem Volk, aber andere waren ganz vernarrt in dieses
„Gold“ und in kunstvoll gefertigte Dinge, die sie dann auch noch um den Hals hängten. Zwerge schürften sogar tief in den Stollen der Berge nach dem Metall und drangen sogar in das verbotene Land zum Volk der Menschen vor. Manche Zwergenvölker waren so viel größer als Wichtel, doch er wusste, es sollte noch größere Wesen in Menschengestalt geben. Ein Volk der Menschen! Das mussten wahre Riesen sein! Angeblich sollten die ihre Füße in Stoffe oder gar in die Haut getöteter Tiere wickeln! Ekelig! Ihn schauderte. Unwillkürlich schüttelte Dorin den Kopf.
Er warf einen letzten Blick auf seine Eltern und auf die Kochstelle. Das wärmende Feuer war fast heruntergebrannt und warf nur noch ein spärliches Licht in den Raum, sodass seine Schlafstatt endlich gänzlich im Dunkeln lag. Dorin bemühte sich, kein einziges Knacken zu verursachen, als er sich nach draußen durchschlängelte. Er schob erst vorsichtig den Kopf unter den ersten Ästchen hindurch, erkannte den als Fluchtweg gebauten Gang und schlängelte sich zwischen Zweigen und kleinen Ästen bis zum Rand der Behausung vor. Er liebte die Harztaschen an den Zweigen des Nadelholzes. Vor allem pikste er diese kleinen Erhebungen gern an und roch an dem austretenden Harz, das klebrig war und von seinen Eltern Baumpech genannt wurde. Doch heute interessierte ihn nicht das Harz, das an manchen Stellen in dicken Tropfen aus dem Holz hervorquoll. Zwischen den Zweigen lugte er in die umliegende Gegend. Sein Blick flog über weitere Holzhügel, die auf den ersten Blick wie zufällig verstreut angeordnet schienen. Aus den meisten drang eine kleine Rauchsäule. Langsam tasteten seine bernsteinfarbenen Augen die Wiese ab. Hier war immer viel los, denn die vielen kleinen Grashalme und Wiesenblumen brauchten Kraft um das Wasser aus dem Boden zu ziehen. Dies ging nicht allein. Nichts ging allein. Nur wo Kraft hineingesteckt wird, kann sich auch etwas entwickeln, fiel ihm der Lehrsatz aus der Schule ein. Sein Blick blieb an einer Graselfe haften, die um diese Zeit noch tätig war. Sie flog immer wieder vom Boden bis zur Spitze der Grashalme und putzte und ordnete diese, sodass tagsüber die Wärme der Sonne an die Halme gelangen konnte. So wurde durch die Wärme das feuchte Nass aus dem Boden bis in die Spitze hinaufgesogen. Morgens leuchten die Elfen schöner, dachte Dorin und kniff die Augen zusammen, als er eine Elfe sah, deren Leuchtkraft nur noch matt war. Wie müde musste sie sein! Wenn er Glück hatte, konnte er die wahre Gestalt der Elfe sehen, sie sollten so ein schönes Gesicht haben und natürlich spitze Ohren. Doch sie zeigte sich ihm nicht in ihrer wahren Gestalt und eigentlich interessierten ihn diese kleinen Graselfen und Blumenelfen nicht, die sich um die Pflege der Pflanzen kümmerten. Er lächelte. Bei jedem Problem rannten sie zu einer der großen Elfen, den Deva‘s, um Rat zu erfragen oder weitere Anweisungen zu erhalten.
Er beobachtete, wie eine Blumenelfe vorsichtig die Blüte einer noch jungen Margerite schloss. Dann schwebte sie müde mit den anderen Elfen hinter der größeren Deva her. Langsam ging sein Blick hoch zum Baum. Manchmal saß eine der Wachen dort. Sein Blick wanderte noch höher zu den Sternen, die er so liebte, und ging dann hin zu den Alten, die jetzt dort am großen Lagerfeuer saßen. Sie erzählten sich etwas. Sie schnitzten an Stöcken und stellten die schönsten Gegenstände zum Tauschen her. Sie brauchten es nicht wirklich. Hatte jemand Hunger, so gab man ihm zu essen, bat jemand um Hilfe, so half man ihm. Aber sie hatten das Tauschen bei den Zwergen beobachtet und diese bei den Menschen. Wichtel fanden es lustig, andere nachzuahmen.
Dorin schlüpfte vollends unter dem Holzstapel hindurch und schlich sich vorsichtig an das Lagerfeuer heran.
Als ein Frosch vom nahen Teich leise quakte, erstarb das Zirpen der Grillen und schnell stimmten andere Frösche in das Rufen ein. Die Töne schwollen unwillkürlich zu einem wahren Organ von lauten Tönen an und Dorin war dankbar für die unerwartete Hilfe. Er nickte den Mädchen vom Volk der Undine zu, die sich um das Wohlergehen der Frösche kümmerten und diese lächelten zurück. Der Geräuschpegel machte es ihm leicht, unbemerkt über den Boden zu robben. Genauso plötzlich, wie die Frösche mit dem Quaken begonnen hatten, verstummten sie jedoch und er hielt erschrocken und mitten in der Bewegung inne. Hilfe suchend sah er sich zu den Undinen um. Udoni, eines diese Naturwesen vom Volke der Udine stand mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen bei den Fröschen. Sie starrte ernst aber nicht feindselig zu Dorin. Der hob entschuldigend die Arme. Ja, er hatte kürzlich seinen Schabernack mit einem dieser Frösche getrieben!
Ja, er würde sich entschuldigen, aber nicht jetzt! Ihn trieb die Neugier weiter, denn die Alten am Lagerfeuer hatten immer Neuigkeiten oder alte spannende Geschichten zu erzählen. Es drängte ihn, schnell und nahe genug an das Lagerfeuer zu gelangen, um endlich die Worte verstehen zu können. Er hoffte, dass es sich lohne, sich der Gefahr auszusetzen, erwischt zu werden.
Hoffentlich erzählte nicht Furgil wieder einer von seinen neuen persönlichen Erfolgen, von fremden Völkern oder Kaufleuten. Er war der Sohn des Schamanen und eigentlich zu jung für diese Runde. Dessen Erfolge waren nicht nur für Dorin langweilig und von Kaufleuten hörte er schon alles in der Schule. Dorin hoffte vielmehr auf die Themen, die in Anwesenheit von Kindern immer ausgelassen wurden. Manchmal sprachen die Alten von den früheren Kriegen zwischen Trollen, Elfen und Wichteln! Die Funken des Feuers stoben wunderbar hoch in die laue Nachtluft. Sterne blinkten in der Ferne und in das Knistern der Holzscheite hörte Dorin wieder das Zirpen von Heuschrecken. Ein Lachen drang zu ihm herüber und dann die erschreckte, laute Stimme von Furgil: „Sonnenlicht der anderen Welt ist gefährlich, sie macht uns zu Stein?“ Wieder lachten die Alten. Ungeduldig kroch er auf allen vieren ein Stück über den Boden. Ihn kümmerte nicht der Sand, der an seinem jungen Körper haften blieb. Den würde er nachher einfach abklopfen, bevor er in sein Bett zurückkehren würde. Was für eine andere Welt? Warum sollten Wichtel zu Stein werden? „Trolle versteinern“, murmelte Dorin. Wahrscheinlich machten sich die Alten mit Furgil einen Spaß, anders konnte es sich Dorin nicht erklären. Er war jetzt nah genug, denn langsam wurden auch die leisen Stimmen verständlicher:
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