Maria war zu deprimiert, um zu antworten, aber es war auch das erste Mal, dass sie ihre qualvolle Einsamkeit, ihr nutzloses Sehnen, so deutlich benannt hatte. Erst einmal blieb sie starr wie ein hypnotisiertes Huhn und versuchte, an etwas anderes zu denken. Nicht an Gerda mit ihren Freiern, nicht an sich selbst und ihren Zwang, eines liebesbedürftigen Gedankens gar nicht mehr fähig sein zu dürfen. Nicht einmal an Hannes dachte sie. Das verkniff sie sich immer öfter, seit der Kerl im Werk so deutliche Forderungen gestellt hatte. Seit diesem Tag wusste sie es wieder: Sie war noch immer ansehnlich und jung genug für einen Mann. Es gab sogar schon Momente, da war sie Lottes Meinung gewesen, die sie damals noch gar nicht kannte. Aber dafür hatte sie sich sofort geschämt.
»Am Samstag ist im Oberland der erste Tanzball. Was hältst du davon…«, fuhr Lotte in Marias stille Gedanken. Die verstand nicht. Das heißt, sie hörte die Frage nicht einmal, nickte scheinbar ohne Grund. Das letzte Mal war sie noch vor dem Krieg mit Hannes im Oberland, das unweit hinter der Stadt begann, die ihrerseits zu entfernt lag, um oft genug besucht zu werden. Ins Oberland waren sie gefahren, als Karla noch nicht geboren war.
»Heißt das, du kommst mit?« Die Lautstärke der Worte, die eine Freude ausdrückten, holte Maria in die triste Stube zurück, die stickig von Rauch der einzige Raum war, in dem sie lebte, weil sie in diesem Raum eine Aufgabe hatte. Die Schlafräume waren für die Freude am Leben nutzlos geworden.
»Ich…? Wohin soll ich …?«
»Ins Oberland zum Tanz. Es wird endlich Zeit für ein bisschen Zerstreuung.«
Als Maria begriff, dass etwas auf sie zukam, was gerade noch in ewiger Ferne gelegen hatte, um nicht zu sagen, was nie wieder zu ihrem Leben gehören sollte, fühlte sie sich innerlich so zerrissen, dass sie ein Frohlocken unter dem Anschein der Empörung vergrub.
»Du bist wohl nicht bei Troste. Wie soll man denn bis dahin kommen?«
»Mit den Fahrrädern. Es sind etwas mehr als zwanzig Kilometer, und wenn wir zeitig genug losfahren... «
In Lottes Gesicht ging etwas vor, was Maria nicht erkannte. War es ein Jubeln, ein Jauchzen oder gar der Triumph, gesiegt zu haben? War sie deshalb so unverhofft gekommen und hatte sie, Maria, jetzt das Stichwort geliefert, auf das die Lotte den ganzen Abend spekuliert hatte?
»Ich warte nicht, bis sich der Max mit seiner Kneipe endlich aufrafft. Und wenn, hier gibt es keine Männer, die wir nicht kennen.«
Das stimmte, aber absurd blieb es dennoch für Maria.
»Ich habe kein Fahrrad. Und überhaupt, was zieht man da an? Nein, das ist nichts mehr für mich.«
»Komm schon. Das Fahrrad besorge ich und ein Kleid finden wir auch noch. Lass mich nur machen…«
Komm schon, das waren früher immer die Worte ihrer Mutter, wenn eines der heranwachsenden Kinder überzeugt werden musste. Mutter Irma sprach es nur anders aus, schlesisch. Kummocke , wie man an viele Worte zuhause das ocke anhing. Früher, als sie noch Kind war, hatte die Mutter immer gesiegt, genau wie Lotte heute.
Erst später, als Maria in ihrem Bett lag, das Röcheln der Kinder belauschte und unter der Decke mit ihren Händen über die nackte Haut ihres Körpers strich, als wollte sie prüfen, ob sie noch frisch genug ist für diese Art Zerstreuung, ging es ihr auf. Die Tanzbälle in dieser bewussten Lokalität waren schon vor dem Krieg berüchtigt als sündige Hölle. Von weither kamen die Mädchen und ebenso die Freier. Es gab dort einen Teil des Tanzbodens, der mit bunten Spiegeln ausgelegt war, was die Männer besonders mochten und was gewisse Frauen bei jedem Schritt kalkulierten. Von organisierter Unzucht sprach man damals — aber das war zu einer anderen Zeit. Die alte Zeit war auf Zucht und Ordnung geprägt, musste man der noch gehorchen? Hatte sie nicht genug Leid über die Menschen gebracht?
Noch ehe Maria in den Schlaf fiel, tröstete sie sich damit: Eine Absage an Lotte wäre fatal gewesen. Wenn die sich etwas in den Kopf setzte, war sie versessen darauf. Und in dieser Eigenschaft ähnelte sie zumindest ihrer Mutter Cecilia Merschank.
Es war einer der letzten Tage im März, der sich extra für sie herausgeputzt zu haben schien. Der Himmel war klar, nur ein paar Wolkenfetzen flogen dahin. In den Bäumen vor dem Haus schlugen die Finken, und ein Elsternpaar sammelte fleißig Nistwerk und trug es in die hohe Birke. Für einen kurzen Moment dachte Maria daran, wie gefährlich die Elstern für die winzigen Finken werden könnten und wie ungerecht doch das Leben der Kreaturen war. Die Starken nutzen die Schwachen aus, laben sich an deren Schwäche und glauben noch, es wäre ihr Recht, das ihnen vom Schöpfer zugedacht wurde.
Maria war jetzt fertig angezogen und probierte, wie sie mit dem Täschchen, das sie gewöhnlich über der Schulter trug, weil diese Art zu tragen Hannes sehr gut gefiel, auf dem Fahrrad zurechtkommen würde. Immer noch vermochte sie nicht wirklich zu begreifen, was sie da tat. Aber irgendetwas sagte ihr ganz deutlich, dass sie Lottes Vorschlag innerlich erregt hatte. Die Kinder waren versorgt. Elias kümmerte sich nicht um die Mama, wenn seine Patentante Anna ihm nur einen leckeren Plins mit selbstgepflückten Heidelbeeren vor die Nase stellte. Karla und Franka warfen Blicke kindlichen Staunens auf die Mutter, die sich herausgeputzt hatte, wie nie mehr in letzter Zeit. Sie wusste, was sie trieb, aber wie hätte sie ihren Kindern erklären sollen, was ewige Sehnsucht ist und was sie bewirkt.
Ihr Herz schlug merkwürdig hart. Wovor hatte sie mehr Respekt? Vor der langen Fahrt auf dem fremden Gefährt, das Lotte besorgt hatte und von denen sie eines vor Jahren ein letztes Mal bestiegen hatte. Oder kribbelte der Gedanke an den Tanz in ihr und an die dafür nötigen Tänzer?
Wenn sie es sich richtig überlegte, war sie ein wenig befangen auch gegen Lotte, die seither an ihren Lippen hing, wenn sie nur davon sprachen. Maria konnte Lottes Bewegungen sehr gut einordnen. Ihr draller Körper stand auf Angebot, auf ein: Sieh her, ich bin noch jung und frisch. Seit Maria zugestimmt hatte, suchte Lotte umso öfter ihre Nähe. Vermutlich hatte sie Angst, Maria könnte es sich noch einmal anders überlegen. Inzwischen wusste sie auch, wie Lotte das Vorhaben vor ihrer Mutter begründet hatte. Natürlich fühle sie sich nur verantwortlich, Maria zu begleiten. Darüber verlor die selbsternannte Freundin zu Maria logischerweise kein Wort.
Die Mädchen Karla und Franka winkten der Mama hinterher. Hinter den Gardinen versteckt standen wie eh und je jene Frauen, die notorisch keiften, wenn einer der Männer aus dem Dorf Maria oder auch Lotte oder jeder anderen Witwe zu Hilfe eilte. Sie wussten nicht, wie es denen ging, die allein zurückgeblieben waren. Deren Männer waren unversehrt oder wenigstens lebend von der Front zurückgekehrt oder rasch aus der Gefangenenschaft entlassen worden. Es gab auch Männer im Dorf, die gar nicht an der Front waren. Weiß der Geier, wie sie es angestellt hatten.
Eine der Frauen rief später den Mädchen zu, als die beiden Witwen längst um die Kurve geradelt waren: »Findet ihr das schön von eurer Mama? Habt ihr keine Angst so alleine?« Franka nickte, aber Karla schüttelte ihren Kopf. Sie hatte unlängst gehört, wie ihre Mama über die Keifenden geredet hatte, und wie sie sagte, dass sie böswillig seien und dass der liebe Gott sie nicht mit Barmherzigkeit gesegnet hätte. Zwar kannte jeder hier die Gefahr, die vom Zeltlager ausging, das im Wald, kaum einen Kilometer entfernt von den Russen aufgeschlagen worden war. Aber keines der Kinder konnte die Angst der Erwachsenen verstehen. Die Kinder gingen gern dahin, wo gesungen und getanzt wurde und wo des Öfteren einmal eine Schöpfkelle Suppe übrig war. Auch wenn sie die Soldaten nicht verstanden, sie waren stets freundlich zu ihnen.
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