Er nickte ihm freundlich zu, und der Fremde maß ihn mit einem forschenden Blick, in dem eher Misstrauen als Freundlichkeit lag. In diesen Zeiten, in denen so viele Menschen die Stadt bevölkerten, mochten auch viele Gauner unter ihnen sein, und ein gewisses Maß an Misstrauen war wohl angebracht.
Dieser Mann jedoch strahlte Angst und Sorge aus. Eine Weile beobachteten sie einander, dann erhob sich der Fremde und stellte sich vor. Er war Fischer aus dem Galil. Sein Dorf lag direkt am See Genezareth und er war mit Freunden in die Stadt gekommen. Einer von ihnen sei jedoch am Morgen unter völlig fragwürdigen Umständen verhaftet worden. Sorge und Trauer lagen in seiner Miene. Es tat ihm gut, mit jemandem zu sprechen. Abdul legte seine Hand auf seinen Arm, um ihm ein wenig Zuspruch zu leisten.
„Vielleicht ist er morgen schon wieder frei. An Tagen wie diesen wird schnell in den Kerker geworfen, um Ruhe in der Stadt zu bewahren.“
Doch der Fischer schüttelte nur stumm den Kopf. „Sie haben ihn mitgenommen.“
Mit einer Woge der Trauer erzählte der Fischer von dem Meister und von seinen Bedenken, er könne womöglich für immer von ihnen genommen werden. Er schluchzte in die aufgestützten Hände.
Abdul Ben Massa begriff, dass dieser Meister etwas Besonderes sein musste. Er versuchte den Mann zu beruhigen, und als der Abend heraufkam, hatte der Fischer ihm so viel von seinem Meister erzählt, dass er beschloss, ihm zu helfen.
Im Schutz der Dunkelheit machten sie sich auf den Weg zum Kerker des Herodes, der von dicken Mauern umgeben in dem nördlichen Teil der Stadt lag. Der Fischer wusste nicht genau, ob sie ihn dorthin gebracht hatten. Er hatte nur Stimmen gehört, die von diesem Kerker sprachen, und darum vermutete er, dass der Meister sich hier befinden müsse. Abdul Ben Massa schloss die Augen und vertiefte sich einen Moment. Er tastete in Gedanken das Gebäude ab, das schwer und drohend vor ihnen lag. Er spürte Leid, Schmerzen und Schmach. Der stechende Geruch von fauligem Fleisch und Exkrementen schlug ihm entgegen. Doch schon bald konnte er eine helle Lichtquelle wahrnehmen, stark, rein und liebevoll. Ja, das musste der Meister des Fremden sein, so, wie er ihn geschildert hatte.
Abdul hatte den starken Wunsch, diesen Meister kennen zu lernen. Er holte einige Münzen aus seinem Beutel und trat zu der Wache, die ein gewaltiges Tor bewachte. Er sprach leise mit dem Mann und erfuhr für eine kleine Gegenleistung, dass man heute einen Verrückten eingesperrt habe, von dem alle behaupteten, er sei der Messias.
Ein zahnloses Grinsen begleitete seine Ausführungen. „Sie werden ihm wohl den Garaus machen, ihr werdet schon sehen. So, wie sie ihn behandelt haben, wird nicht viel von ihm übrig bleiben.“
Abscheu stieg in Abdul auf. Er wandte sich ab, um dem Fischer zu berichten, was er erfahren hatte. Simon, so hieß der Fischer, hatte Vertrauen zu Abdul gefasst.
„Komm mit heute Abend zu einer der Versammlungen, wo wir uns treffen“, zischte er leise.
Eine heftige Windböe wirbelte den Staub auf, der sich auf dem Platz angesammelt hatte. Die Fensterläden waren dicht verschlossen, und im Inneren des Hauses hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, die zum engsten Kreis des Meisters gehörten. Judas, Karim, Nikodemus, Sarah, Maria Magdalena und Simon Petrus, der den Fremden mitgebracht hatte.
Bedrücktes Schweigen herrschte in dem Augenblick, in dem sie sich zusammengefunden hatten. Mit ernsten, tief besorgten Gesichtern saßen sie da, um Brot und Wein miteinander zu teilen, so, wie es der Meister stets tat. Nach den Gebeten hatten sie sich an den Händen gehalten, um gedanklich zu ihrem Meister zu reisen, der an diesem Abend nicht bei ihnen sein konnte.
Nikodemus hatte ein Schriftstück entrollt, das er am Nachmittag mit Hilfe von Josef von Arimathäa verfasst hatte. Man bat darum, den Inhaftierten bis zur Verhandlung freizulassen und ihm zu erlauben, sich innerhalb der Stadt zu bewegen.
Die Bedrückung steigerte sich noch weiter, als Josef von Arimathäa eintraf und nur schweigend den Kopf schüttelte. Sie hatten ihn der Ämter, die er im Hohen Rat bekleidete, enthoben und damit alle Befugnisse genommen. So konnte er den Versammlungen nicht mehr beiwohnen und die Debatten und Entscheidungen dort nicht mitverfolgen. Sie spürten, dass Jeheshua noch am Leben war, aber sie spürten auch Zorn und Wut auf den Hohen Rat und die Pharisäer, die mit allen Mitteln versuchten, ihn zu verurteilen.
Das Öllicht flackerte, wenn eine neue Windböe durch die Gassen fegte. Sie stimmten erneut ein Gebet an, indem sie sich an den Händen hielten und den Worten des Simon lauschten.
Abdul Ben Massa hatte etwas abseits in einer Ecke des kleinen Raumes Platz genommen. Er hatte alle Anwesenden nur still beobachtet und den Gebeten gelauscht. Jetzt blickte Josef freundlich zu ihm herüber: „Komm doch näher, Fremder, und erzähl uns, wer du bist und was dich zu uns geführt hat.“
Zögernd verbeugte er sich leicht und stellte sich vor.
Alle Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Fremden, der ihnen trotz allem irgendwie vertraut erschien.
Abdul Ben Massa begann zu erzählen: „Ich stamme aus einem fernen Land, weit von hier. Ihr würdet es Gallien nennen. Meine Eltern sind vor vielen Jahren dorthin verschleppt worden, und ich bin in diesem Land geboren, dessen Sprache ich auch beherrsche, denn bis zu meinem sechsten Lebensjahr habe ich dort gelebt.
Dann gelang uns auf mysteriöse Weise die Flucht, denn meine Eltern dienten dort als Sklaven bei einem reichen Kaufmann. Ich selbst musste schon früh den Herrschaften zu Diensten sein und habe bereits als kleines Kind Wasserkrüge geschleppt und im Garten geholfen. Meine Mutter wurde plötzlich sehr krank, und wir alle befürchteten, dass sie sterben würde. Doch die Heilkunst eines Magiers aus einem benachbarten Land ließ sie sehr schnell wieder genesen. In diesem Moment war für mich entschieden, was ich einmal aus meinem Leben machen wollte, und der Mann, der meine Mutter geheilt hatte, eine große, aufrecht stehende Persönlichkeit mit ausdrucksvollem Gesicht, lächelte mich nur an, als verstünde er meine Gedanken zu lesen.
Er war es auch, der uns zur Flucht verhalf, denn meine Eltern wollten unbedingt noch einmal ihr Heimatland sehen, bevor meine Mutter sterben würde, denn der Fremde sagte uns, dass sie zwar zunächst geheilt sei, aber die Krankheit wiederkommen werde. Ich fragte mich damals, unwissend, wie ich war, wie er das wissen konnte? Heute ist es für mich selbstverständlich, in den Geist eines Menschen einzutauchen und sowohl seine Vergangenheit als auch seine Zukunft zu lesen.“
„Welche Zukunft hat unser Meister?“, wurde Abdul von Miriam unterbrochen.
„Ich sehe einen Mann, der ans Kreuz geschlagen wird. Aber er wird die Kreuzigung überleben!“
Alle starrten Abdul mit weit aufgerissenen Augen und völlig fassungslos an. Maria Magdalena begann leise zu weinen und Simon Petrus wurde wütend. Er begann zu schimpfen und die Römer zu verfluchen.
„Was, was können wir tun?“, stammelte Josef, der als erster die Fassung wieder zu erlangen schien.
„Wir können ihm den Schmerz nehmen, indem ihr ihm eine Tinktur verabreicht, die ich eigens für diesen Zweck herstellen kann.“
„Was ist das für eine Tinktur?“, wollte Judas wissen, der bisher ziemlich teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte und still in sich versunken war.
„Es ist eine besondere Rezeptur, die mir mein Meister anvertraut hat. Sie wirkt sehr schnell und lässt den Einnehmenden in eine Art Rausch fallen, der ihn zwar noch seine Umwelt wahrnehmen lässt, der aber auch dazu führt, dass der körperliche Schmerz größtenteils ausgeschaltet wird.“
„Wie sollen wir ihm diese Mixtur verabreichen?“, fragte Josef, der keinen Augenblick an den Aussagen des Fremden zweifelte, der über ein so großes Wissen zu verfügen schien.
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