Die Kleine war nun auf seinen Schoß geklettert. Sie hielt ihren linken Fuß hoch, der, es war nun deutlich zu sehen, verkrüppelt war. Er stand schief und verkrümmt ab, sodass sie nur einen Strumpf trug statt einer Sandale. Sie strahlte und herzte den Mann, der nun sanft und leise mit ihr zu sprechen begann. Die Kleine lachte und hörte andächtig zu, als er ihr etwas zu erklären schien. Sie hob abermals den verkrüppelten Fuß und der Fremde umschloss ihn vorsichtig mit seinen Händen. Er sprach währenddessen leise mit dem Kind und strich mit einer Hand sachte über den Fuß. Die Kleine hatte den Blick gesenkt und betrachtete ebenfalls den Fuß, der sich eigentümlich zu strecken begann. Er zuckte und zappelte mit einem Mal, so, als hätte sich eine fremde Kraft seiner bemächtigt.
Die Kleine stieß einen Schrei hervor, aber es war nicht der Schrei eines Schmerzes, den ihr der Fuß bereitete, sondern den des überraschten Erstaunens. Sie hob und drehte den Fuß und sprang dann auf die Füße, vollführte Freudensprünge und tanzte in der Mitte des Raumes herum. Alle waren verstummt und blickten gebannt auf die Kleine, die Freudentränen weinte und allen stolz ihren geheilten Fuß entgegenstreckte.
Die Eltern nahmen sie ebenfalls weinend in den Arm. Die Mutter kniete nieder, um dem Meister zu danken, der nur still dasaß und lächelte. Er hielt nun die Hand des Mädchens, das ihn überschwänglich herzte und umarmte. Er segnete die Familie und sagte den Eltern, dass ihre Tochter noch Großes vollbringen werde. Man solle sie in allem unterstützen, was die Kleine zu erlernen beabsichtigte.
Die Versammelten begannen nun wild zu gestikulieren und ein Stimmengewirr erhob sich, sodass der Prokurator nicht erkennen konnte, was nun vor sich ging. Viele umstanden den Fremden, und als sich der Tumult lichtete, war er verschwunden.
Die Menschen drängten nach draußen. Der Vater trug stolz die Tochter auf dem Arm, die unablässig auf ihren gesunden Fuß starrte. Alles strömte dorthin, wo ein Tisch mit Speisen angerichtet war. Sie bedeckten den ganzen Tisch. Oliven, Brot, Früchte und ein Gericht aus Linsen und Bohnen, das nur zur Fastenzeit zubereitet wurde. Alle füllten ihre Schalen, nachdem er sie gesegnet hatte. Sie redeten aufgeregt durcheinander und der Fremde stand da, hielt seine Schüssel in den Händen und antwortete auf Fragen, die die Umstehenden an ihn richteten.
Nach dem Mahl wandte der Fremde, den alle Meister nannten, den Kopf und blickte den Prokurator mit ernster Miene an.
„Nun, habt Ihr genug gesehen, um Euch ein Bild machen zu können?“
Pilatus blieb der letzte Bissen beinahe im Halse stecken. Woher kannte er seine Beweggründe und was bezweckte er?
„Ja“, antwortete er. „Ich habe genug gesehen, um zu bemerken, welche außerordentlichen Fähigkeiten Ihr beherrscht. Könnt Ihr mir ebenfalls helfen, meinen Gesundheitszustand zu verbessern?“ Er verneigte dabei leicht seinen Oberkörper, um seiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen.
Der Fremde antwortete: „Würde dann Euer Urteil milder ausfallen?“
Der Prokurator schwankte. Röte schoss ihm ins Gesicht. Er weiß alles, fuhr es ihm durch den Kopf.
„Nun, da Ihr zu wissen scheint, in welcher Lage ich mich befinde, was ratet Ihr mir?“, antwortete er mit bebender Stimme.
Der Fremde lächelte jedoch nur: „Ich werde Euch Eure Arbeit nicht abnehmen.“
Damit wandte er sich ab, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Alle Umstehenden wandten sich ebenfalls zur Tür, um den Aufbruch des Meisters zu begleiten. Mit einem Mal wurde es still in dem Raum, wo der Fremde gerade seinen braunen Umhang umgelegt hatte. Ein seltsames Leuchten erfüllte den Raum. Das Gesicht des Meisters schien von innen her zu strahlen.
Miriam hatte sich tief vor ihm verbeugt. Sie war auf die Knie gesunken und hatte das Fläschchen mit dem kostbaren Salböl hervorgezogen. Ein Raunen ging durch die Menschen, die den Meister dicht umringten. Dem Prokurator gelang es, einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Die junge Frau war niedergekniet, hatte die Füße des Meisters geküsst und dann mit dem Salböl übergossen. Sie rieb den Fuß damit ein, benetzte auch den anderen Fuß und begann, während ihr Tränen über das Gesicht rannen, mit ihrem Haar die Füße des Meisters zu trocknen. Sie schluchzte laut, den Kopf tief gebeugt.
Der Fremde hatte seine Hand auf ihren Kopf gelegt. Sein Blick ruhte auf der jungen Frau, die ihr Gesicht unter dem üppigen Haar verbarg. Der Meister murmelte einige unverständliche Worte. Leise und sanft klang seine Stimme. Dann nahm er die Hand der jungen Frau, richtete sie auf, und legte eine Hand auf ihre linke Schulter: „Komm mit und folge mir!“, waren die wenigen Worte, die der Prokurator vernahm.
Die Menge der Menschen murmelte und raunte und der Meister verließ das Haus, im Gefolge seine Begleiter und die junge Frau, deren Gesicht nun leuchtete und strahlte, so wie das Gesicht des Meisters, der vor ihr den Weg entlangschritt.
Die Gruppe verlor sich in der Dunkelheit, so, wie auch die anderen, die an der Versammlung teilgenommen hatten, sich in alle Richtungen zerstreuten.
Der Prokurator blieb nachdenklich zurück. Seine Knie gaben nach und er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Was war mit ihm geschehen? All sein Denken kreiste um diesen charismatischen Fremden, dem nichts verborgen blieb und der jeden Gedanken des anderen kannte. Was für ein Gott hatte sich da inkarniert? Wussten die Juden überhaupt, in welcher Gunst sie standen, dass er in ihrem Volk geboren war, so schoss es ihm durch den Kopf. Am liebsten wäre er aufgesprungen, um dem Fremden zu folgen. Doch etwas hielt ihn zurück und band ihn bleiern an den Stuhl, auf dem er saß.
Was hatte er damit gemeint, ob er sich ein Bild gemacht habe? War es überhaupt möglich, sich ein schlüssiges Bild zu machen, bevor er die Person überhaupt näher kannte, und wessen hatte er sich schuldig gemacht? Es war kein Vergehen, zu heilen oder zu segnen. Jeder Rabbiner durfte das. Was war es also, das ihn für die Pharisäer so gefährlich machte? Was war an dem sanften, freundlichen Mann so aufrührerisch?, so fragte er sich.
Sanft berührte ihn eine Hand an der Schulter, und er fuhr erschreckt zusammen. Josef stand neben ihm.
„Es ist Zeit, mein Freund. Eine Sänfte wartet und wird dich zurück zu deinem Palast bringen. Ich werde dich morgen zur Audienzstunde aufsuchen, um dir meine Pläne zu unterbreiten. Ich denke, du hast genug gesehen, um dir ein Bild zu machen.“
Schweigend umarmten sie einander, und er wurde zu einer Sänfte geleitet, die für ihn bereit stand. Erschöpft fiel er in den Sitz und schloss die Vorhänge, um unerkannt zu bleiben.
Wenig später, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, erreichten sie den Palast des Prokurators. An der hinteren Pforte war die Tür unverschlossen und er konnte ungesehen in seine Gemächer gelangen. Ein einzelnes Öllicht brannte in seinem Schlafgemach, und er eilte in sein Ankleidezimmer, um sich auszukleiden und zu reinigen. Zu seinem Erstaunen hatte seine Gemahlin auf dem Bett Platz genommen. Sie schien ihn zu erwarten. Ernst blickte sie ihn an. Er wich ihrem forschenden Blick aus und legte seine Gewänder ab, ehe er in das Bassin mit warmem Wasser stieg. Er ließ sich hinabgleiten und schloss die Augen. Die Bilder des eben Erlebten stiegen in ihm auf. Konnte er ihr davon berichten, sie einweihen?, so fragte er sich. Sie war eine gläubige Frau. Jeden Tag wurden die Hausaltäre mit frischen Blumen geschmückt.
Sie hatte sich auf den Rand des Bassins gekniet und begann seine Schultern zu massieren. Niemand konnte das so wie sie. Ihre Hände waren so erfahren, genau die Muskeln zu bearbeiten, die es so dringend brauchten.
Ihre Stimme durchschnitt die Stille: „Und, hast du ihn gesehen?“
Er schnellte herum. Nervös blickte er zu ihr auf. Sein Herz pochte. Zitternd umklammerte er ihre Hände. Ungläubig blickte er auf: „Auch du?,“ flüsterte er. Sein Atem ging stoßweise vor Aufregung. „Dann weißt du um ihn?“
Читать дальше