Wenn Nathan und Emma im Bett waren, habe ich mich mit einer Flasche Wein aus unserem gut bestückten Weinregal ins Schlafzimmer zurückgezogen, um nicht mit Matteo im Wohnzimmer sein zu müssen - und um zu vergessen, was er getan hat.
Seit Wochen fühlt sich mein Leben unwirklich an - das Karussell dreht sich viel zu schnell für mich, hat mich abgeworfen und ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, nochmal aufzusteigen.
Mit kräftigen Strichen ziehe ich die Bürste durch die nackenlangen, blondgefärbten Haare, bei denen der dunkle Ansatz schon viel zu deutlich zu sehen ist. Ein Friseurbesuch ist dringend nötig.
Können wir uns das überhaupt noch leisten?
Ich schüttle den Kopf, weil ich nicht darüber nachdenken möchte und mache mich daran, mein Make-up sorgfältig aufzutragen, damit niemand sehen kann, wie schrecklich ich wirklich aussehe – ich könnte Frankensteins Braut geben, wenn schon Halloween wäre. Wegen den Haaren wird mir schon etwas einfallen. Vielleicht gehe ich heute in die Stadt, wenn Dad mit den Kindern an den Strand fährt, und sehe nach was Färben im lokalen Friseursalon kostet.
Unten sitzt die Familie bereits einträchtig am Esstisch. Nathan löffelt ganz selbstverständlich eine Schüssel Porridge, obwohl er das in seinem Leben noch nie gegessen hat. Zu meinem Erstaunen isst Emma ebenfalls den von ihrem Großvater zubereiteten Haferbrei, sie hat sich zusätzlich ein paar Blaubeeren in die Schüssel geworfen und fragt Dad gerade darüber aus, ob Porridge gut für ihre Figur ist. Armer Dad. Ich glaube nicht, dass er darauf eine Antwort hat. Dementsprechend eiert er auch um die Frage herum.
„Ihr fahrt zum Strand?“, frage ich zur Ablenkung vom Thema und setze mich zu Tisch, wo bereits eine Schüssel für mich wartet.
Es ist nicht so, dass ich Porridge nicht mag, aber momentan fühlt sich mein Magen so an, als würde ein Matrose Knoten üben. Ständig ist mir übel und ich habe auch jetzt keinen Appetit, weswegen ich auch nur so tue, als würde ich essen. Dad bemerkt, dass ich nur den Löffel ab und zu eintauche, runzelt die Stirn, sagt aber nichts dazu – wofür ich außerordentlich dankbar bin.
Ob ich esse oder nicht, ich habe die schlanke Linie der McDonalds geerbt, denn obwohl mein Vater groß und massiv wirkt, ist kein Gramm Fett an ihm und ebenso ist es bei mir. Was jetzt den Nachteil hat, dass meine unfreiwillige Hungerkur mich schneller wie ein rappeldünnes Skelett aussehen lässt.
„Sicher kann man nicht ins Wasser gehen, aber vielleicht bauen wir ja eine Sandburg“, meint Dad.
Emma lächelt Nathan an, der sich laut jubelnd freut und seinen Großvater mit Fragen nach Schaufeln und Sandförmchen bestürmt.
„Bei Nonno und Nonna in Rimini haben wir ganz viel davon“, erzählt er.
„Grandma hatte immer einen Eimer mit einer kleinen Schaufel in der Garage“, erinnert sich Emma.
Ihr Gedächtnis ist phänomenal, schließlich muss es einige Jährchen her sein, dass sie damit gespielt hat. Aber schlau ist sie, deswegen mache ich mir auch keinerlei Sorgen, dass sie hier in Schottland auf der Schule nicht mithalten kann.
„Ich werde in die Stadt gehen und sehen, was sich in Sheemore alles verändert hat“, werfe ich ein.
„Das kann ich dir schnell beantworten“, lacht Dad. „Nichts. In Sheemore hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Etwas außerhalb, Richtung St. Monans, haben sie jedoch einen Supermarkt gebaut.“
Er verzieht angewidert das Gesicht. Mein Vater ist kein besonders moderner Mann und obwohl ein Supermarkt hier schon immer dringend nötig war, sieht er das wahrscheinlich ganz anders.
„Hat Eve Smithers immer noch den winzigen Friseurladen am Marktplatz?“
„ Aye . Hat sie. Willst du dir die Haare machen lassen?“
Ich sehe, wie Dad mich mustert. Ihm fällt nicht so schnell auf, wenn eine Frau dringend zum Friseur muss, aber jetzt, wo ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe, sieht er doch ziemlich kritisch drein und selbst er muss den gut zwei Zentimeter großen, dunklen Ansatz sehen.
„Kann sein. Ich überlege noch“, murmele ich und rücke dann meinen Stuhl zurück, um mich in mein Zimmer im Dachgeschoss zurückzuziehen.
Als ich schon am Fuße der Treppe bin, kommt Dad mir hinterher. Ohne Worte nimmt er meine Hand und legt einen Geldschein hinein. Vor Verlegenheit schaue ich nicht mal hin und schließe die Finger darum.
„Danke, Dad.“
Ich hauche ihm schnell einen Kuss auf die kratzige Wange und verschwinde dann hastig die Treppe hinauf. Als ich meine Hand öffne, sieht mir Lord Archibald Campbell entgegen, der Gründer der Bank of Scotland. Mir treten Tränen in die Augen, als ich die Zahl auf dem Geldschein lese. Ein Haarschnitt plus Färben kostet bei Eve Smithers keine hundert Pfund, das weiß sogar mein etwas weltfremder Vater und dennoch scheint er zu ahnen, dass ich das Geld momentan gut brauchen kann.
Es ist ein sonniger Tag, der die schönste Seite von Sheemore zum Vorschein bringt. Nur wenige Menschen tummeln sich hier und da, während ich durch die Stadt schlendere. Die kleinen Fischerhäuser, die sich an der Uferpromenade reihen, habe ich bereits hinter mir gelassen und sehe mich nun mit dem Staunen eines Menschen, der erkennt, dass er den einen Ort auf Erden gefunden hat, wo die Zeit für immer still steht, auf dem Marktplatz um. Alles wie immer.
Das winzige, schmale Häuschen von Eve Smithers und ihrer Schwester Carol schmiegt sich eng an das der Grahams. Ich starre die Bäckerei eine ganze Weile an, traue mich aber nicht, den Laden zu betreten. Was sollte ich auch sagen? „Hallo Jo, wir haben uns seit rund dreizehn Jahren nicht gesehen oder gehört, aber da bin ich wieder!“ Nein, das geht auf gar keinen Fall. Ich werde einen großen Bogen um Graham‘s machen und bei dem Supermarkt einkaufen, den Dad erwähnt hat.
Stattdessen halte ich auf das schmiedeeiserne Schild zu, auf dem in schnörkeligen Lettern Scissor Sisters steht.
Am Empfang erwartet mich bereits Eves Schwester Carol, die mich erwartungsgemäß nicht erkennt. Carol Smithers ist wortkarg und mürrisch, außerdem kann sie sich viele Dinge nicht merken, darunter Gesichter. Menschen, die sie nicht regelmäßig sieht, erkennt sie meist nicht wieder – vielleicht tut sie aber auch nur so, weil sie wirklich nur ungern mit anderen spricht. Ein Verdacht, den nicht nur ich hege.
Als Kind hatte ich immer ein wenig Angst davor, von ihr mit Haut und Haaren gefressen zu werden, was sicher an den Erzählungen über die bösen Feen liegt, die mir mein Großvater abends am Feuer vorlas. Eine Illustration einer besonders bösartigen Fee, die auch niemals mit den Menschen sprach, sah Carol leider auch noch so ähnlich, dass diese Vorstellung von ihr sich lange in meine Teenagerjahre gehalten hat.
Am Empfang eines Friseurgeschäftes ist sie sicher nicht besonders gut platziert mit ihrer abweisenden Art, aber ich muss eingestehen, dass es dennoch rührend ist, wie Eve ihre Schwester miteinbezieht. Carol ist ein wenig langsam, dazu ihre eigenbrötlerische Art… Sagen wir einfach, es ist ein Segen, dass sie ihre große Schwester hat.
Jetzt betrachtet sie mich finster von oben bis unten.
Sie ist alt geworden in den letzten vierzehn Jahren, schießt es mir durch den Kopf.
Aber das ist ja auch völlig normal, schließlich muss sie ungefähr im selben Alter sein wie mein Dad. Allerdings wirkt sie wesentlich älter. Ganz anders ihre quirlige Schwester Eve, die jetzt förmlich auf mich zugestürzt kommt. Eingehüllt in eine Wolke Chanel Nr.5 – ein Klassiker unter den Parfüms, wie meine Mum stets zu sagen pflegte. Miss Smithers betrachtet mich von oben bis unten, legt die perfekt manikürten Finger theatralisch an die Wangen und sieht mich mit großen Augen an, als wäre ich eine Erscheinung.
„Anna McDonald?“
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