Nach anfänglichen Schwierigkeiten begann Lyra allerdings Gefallen an der Arbeit zu finden. Wäre nicht ihre stets keifende Oma vor Ort, hätte sie sogar behaupten können, dass ihr das Holzhacken Spaß machte. Die gute Sache dabei war, dass Regina auf die sonst hauptsächlich vegetarische Kost verzichtete und jedes Mal, wenn Lyra das Hackebeil schwang, sie dafür mit einem ordentlichen Stück Fleisch belohnte.
Als Lyra gerade darüber nachdachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Irgendwie hatte sie die wahnwitzige Vorstellung, dass heute das halbe Pfund Rind noch besser schmecken könnte, wenn es roh serviert würde. Entsetzt schüttelte sie den Gedanken aus ihrem Hirn und trat in die Pedale. Als sie das Ortsschild Berlin sah, stutzte sie. War sie wirklich am S-Bahnhof Birkenwerder vorbeigefahren und nun direkt auf dem Weg durch Frohnau? Mit dem Fahrrad! Wo kam auf einmal ihre Kondition her? Sonst war sie doch bereits völlig aus der Puste, wenn sie das Bahnhofsgebäude erreichte?
Beschwingt setzte sie ihren Weg fort und beschloss, das aktuelle Geschehen rund um ihren Körper vorerst als gegeben hinzunehmen. Sie dachte an ihren Laptop, der immer noch ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch stand und seine Geheimnisse oder vielmehr die Wahrheit für sich behielt. Die Vogel-Strauß-Methode war zwar nicht die effektivste Art, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, aber vielleicht hatte Emily ja auch gar nicht so unrecht. Sollte sie doch dankbar sein über ihre neuen Kräfte. Grübeln half in jedem Fall auch nicht weiter.
Der kalte Frühlingswind riss an ihren Haaren, die binnen kürzester Zeit auf stolze Kinnlänge gewachsen waren, und die ersten Pollen wehten durch die immer wärmer werdende Luft.
Dann zuckte Lyra zusammen.
Scheiße, verdammte!
Irgendetwas hatte sich zwischen ihr Auge und diese blöde Kontaktlinse geschoben. Lyra fiel es schwer, sich an die tütenartige Folie auf ihrem Augapfel zu gewöhnen. Sie hatte viel geübt und wahnsinnig viel Geld für einen Haufen unnützes Zeug ausgegeben. Sie benötigte jetzt Reinigungslotion, Augentropfen, Aufbewahrungsflüssigkeit, Aufbewahrungsbehälter … und einen Taschenspiegel für alle Fälle. Bisher hatte Lyra immer gedacht, dass diese kleinen Dinger nur etwas für Tussis seien, die sich am laufenden Band von ihrer Schönheit überzeugen mussten. Jetzt war dieser Spiegel allerdings in einer viel praktischeren Form hilfreich. Lyra bremste, lehnte ihr Fahrrad an den nächstbesten Baum und riss sich die Fake-Brille mit dem Fensterglas von der Nase, die sie nun in den Kängurubeutel ihres Hoodies steckte. Dann kramte sie nach ihren Utensilien und fand, wonach sie suchte. Es brannte höllisch in ihrem rechten Auge, was das Unterfangen nicht unbedingt einfacher machte. Der Straßenrand der B96 bot auch nicht gerade optimale Bedingungen, um sich die Kontaktlinse aus dem Auge zu popeln, sie zu säubern und dann wieder einzusetzen. Lyra presste die Zähne aufeinander, bis die knirschenden Geräusche kamen, vor denen ihr Zahnarzt sie gewarnt hatte. Doch der Zustand ihrer Zähne war ihr gerade scheißegal. Sie musste verdammt noch mal diese bescheuerte Linse wieder in ihr Auge kriegen. Dass jetzt Tränen der Wut aus beiden Augen schossen, half auch nicht wirklich.
W.T.F.D. What The Fucking
DRECKSCHEISSMISTKACK!
Zehn Minuten später gab Lyra auf, kratzte sich wütend auch die linke Linse vom Augapfel und warf sie zu der anderen in die Dose mit der Aufbewahrungsflüssigkeit. Ein letztes Mal blickte sie in den kleinen Taschenspiegel, in dem sich gerade ein Sonnenstrahl verfing. Die helle Farbe ihrer Augen sah faszinierend aus. Tränenflüssigkeit spiegelte sich in der Iris, die so gelb leuchtete wie der Raps im Mai.
Aber Oma Regina würde das sicherlich nicht faszinierend finden. Verzweifelt warf sie den Spiegel in ihre Tasche und kramte die große Sonnenbrille hervor, die ebenfalls neu war. Dann muss ich der alten Schachtel eben Märchen erzählen. Was soll’s – wäre ja auch nicht das erste Mal, dachte Lyra resigniert und machte sich auf den Weg zum Haus ihrer Großmutter.
* * *
»Ah, da bist du ja. Wie du wieder aussiehst? Bist du den ganzen Weg mit dem Fahrrad gefahren? Herrjemine, du bist ganz verschwitzt, junge Dame!« Regina machte eine winzige Pause und betrachtete ihre Enkelin argwöhnisch, bevor sie mit einem zufriedenen Lächeln feststellte: »Was ist denn das für eine fesche Sonnenbrille? Ist die neu? Dass es so etwas tatsächlich in deiner Sehstärke gibt?«
Lyra nahm die Brille ab. »Kontaktlinsen, Oma. Hast du doch selbst vorgeschlagen. Nun habe ich welche.«
Regina Hertzberg rang um Fassung und taxierte naserümpfend ihre Enkelin. »Ja, richtig. Das habe ich. Allerdings schwebte mir ein freundliches Blau vor oder eben die farblose Variante. Du hast doch wunderschöne braune Augen, Kind. Die hast du von deinem Großvater geerbt.«
Lyra grinste in sich hinein und betrat das Haus. Die Farbe ihrer Augen war das Erste, was Regina damals aufgefallen war, als Lyra auf die Welt kam. Der jüngste Spross der Hertzbergs hatte sich erdreistet, nicht die Augenfarbe des Kronprinzen zu erben. Malthe hatte – wie es sich für einen richtigen Hertzberg gehörte – blassblaue Augen.
Mit gelbgrüner Iris schaute Lyra ihrer Großmutter nun direkt und absichtlich lange ins Gesicht und versprach feierlich, sich darum zu bemühen, das Erbe ihres Großvaters in Ehren zu halten. »Das ist nur so ein dummes Experiment gewesen, Regina. Natürlich habe ich die schönen braunen Augen von Matthias geerbt. Beim nächsten Mal ist alles wieder gut. Versprochen! Nur heute habe ich meine Brille gar nicht dabei, deshalb musst du jetzt mit dieser Augenfarbe vorliebnehmen«, log Lyra und tastete nach dem Kunststoff in der Tasche ihres Kapuzenpullovers.
»Das wäre äußerst rücksichtsvoll von dir, mein Kind. Du weißt doch, dass mich alles Neue immer ganz kribbelig macht. Und jetzt komm rein, das Essen wartet.«
»Ja, Regina.« Lyra zog brav ihre Stiefel aus und ging ins Esszimmer. Aus dem Flur hörte sie ihre Großmutter fluchen: »Und nenn mich nicht immer Regina, junges Fräulein!«
Das junge Fräulein verdrehte genervt die Augen und ließ sich auf ihren Stuhl am Esstisch fallen. Der Appetit nach rohem Fleisch kam ihr wieder in den Sinn. »Kannst du mein Steak heute medium oder besser noch rare braten?«
Regina warf gerade eine riesige Scheibe Rindfleisch in das heiße Öl. »Seit wann denn das? Das sind ja ganz neue Sitten. Diese Jugend von heute, immer muss alles neu und anders sein! Davon kriege ich Migräne.«
Lyra schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die Nörgelei ihrer Großmutter in die hinterste Ecke ihrer Wahrnehmung zu schubsen. Dann holte sie tief Luft und sagte in bewusst freundlichem Tonfall: »Regi… Oma, bitte!«
Letztlich wusste Lyra doch ganz genau, wie sie Regina dazu bringen konnte, ihre Selbstgerechtigkeit für einen Augenblick zu vernachlässigen. Keine vier Minuten später lag ein großes Stück Fleisch auf ihrem Teller, das beim Anschneiden blutete.
»Das ist ja widerlich! Die Engländer haben wirklich barbarische Bräuche«, stellte Regina Hertzberg fest und verließ mit gerümpfter Nase das Esszimmer. Lyra war ganz froh darüber, allein zu sein. Bisher hatte sie beim Anblick blutenden Fleisches ebenfalls angewidert geschaut und sich nicht vorstellen können, jemals halbrohes Rind zu essen. Dennoch riss sie jetzt das Stückchen Fleisch von ihrer Gabel und schloss beim Kauen genüsslich die Augen. Fast ekstatisch verschlang sie das restliche Steak und leckte das rotbraune Gemisch aus Bratensaft und Blut vom Teller. Sie war sich sicher, dass sie noch niemals in ihrem Leben etwas so Köstliches gegessen hatte.
»Bist du ein Hund? Ich fasse es nicht! Seit wann lecken wir in der Familie Hertzberg den Teller ab? Stell ihn sofort auf den Tisch!« Nicht Lyras Großmutter rief gerade im perfekten Kasernenton aus dem Flur. Es war ihre Mutter. Verblüfft stellte Lyra den Teller auf den Küchentisch, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und drehte sich langsam um. Lyra kannte ihre Mutter nun schon eine ganze Weile. Logisch. Aber noch nie hatte sie von ihr ein lautes Wort gehört.
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