»O.M.G. Wie geht das? Ist das Grüner Star oder so was? Emily, du bist doch die Bio-Leuchte!«
Als ihre Freundin gerade etwas entgegnen wollte, zuckte Lyra zusammen und lauschte in die Stille. »Da kommt jemand!«
»Hä?« Konzentriert starrte Emily ins Nirgendwo. Bis auf das tropfende Geräusch des alten Wasserhahns konnte sie nichts hören.
Der Knall einer Tür, die unsanft aufgestoßen wurde, zerriss die vermeintliche Stille. »Hey, ihr beiden Transusen. Seit zehn Minuten ist Unterricht. Herr Müller hat mich losgeschickt, euch zu suchen. Ich habe echt andere Sachen zu tun, als euch blöden Kühe vom Klo zu holen.«
Jenny, die arroganteste Tussi der 12b, schüttelte gerade trotzig ihre blondgefärbte Mähne, als sie mitten in der Bewegung innehielt. Da war etwas in ihren Augen, das Lyras Instinkt weckte und sie wissen ließ, dass Jenny zukünftig mehr Ärger machen würde, als sie es jetzt schon tat. Doch der durchdringende Blick der Blondine war noch nicht alles. Als hätte sie sich verbrannt, griff sie sich irritiert in den Ausschnitt und tätschelte einen klobigen Kettenanhänger, den sie seit neuestem trug. Einen Wimpernschlag später hatte sie sich wieder im Griff und fragte im bekannt gehässigen Tonfall: »Sag mal, Hertzberg, was ist mit deinen Augen passiert?«
Lyra und Emily schauten sich an und antworteten dann synchron: »Kontaktlinsen, Jenny. Was denn sonst?«
* * *
»Emily, ich kann so nicht zurück in den Unterricht.«
Jenny wackelte vor ihnen den Gang hinunter. Die Absätze ihrer Booties hinterließen klackernde Geräusche auf dem alten Steinfußboden. Die beiden Mädchen blieben etwas zurück. Emily zog Lyra am Arm und bedeutete ihr, stehenzubleiben.
»Okay, was soll ich sagen? Durchfall, Übelkeit, Grippe?«
»Bei wem haben wir jetzt?«
»Lyra, konzentrier dich! Wir haben Mathe. Der Müller ist bestimmt schon extrem sauer. Also, los! Lass dir was einfallen!«
Genervt wirbelte Jenny herum und warf ihre blonden Haare über die Schulter. Im Sonnenlicht, das durch die Flurfenster strahlte, glitzerten winzige Partikel. Es sah fast aus, als würde Jenny stauben.
»Ladies! Soll ich den roten Teppich ausrollen?« Mit verschränkten Armen blieb sie stehen und beobachtete wie eine Hydra ihre Beute. Der Absatz ihres rechten Schuhs klackerte unheilverkündend auf dem zerschrammten Fußboden.
Lyra drehte ihr den Rücken zu, als könne sie so verhindern, dass die Hydra verstand, was sie jetzt sagte: »Der Müller ist doch ein verklemmter Heini. Sag dem einfach, dass ich Menstruationsprobleme habe und nach Hause gegangen bin.«
Emilys bis eben noch kalkweiße Wangen färbten sich rosa. »Was soll ich?«
In Lyras Hirn ratterte es wie in einem Uhrwerk. »Ja, genau so! Dann stellt der wenigstens keine weiteren Fragen, sondern ist noch peinlicher berührt als du und der Rest der Klasse. Du musst es ja auch nicht brüllen. In den ersten zwei Bankreihen sitzen eh nur die unterentwickelten Streber. Dann los jetzt!«
Ihre Freundin war schon im Begriff zu starten, als Lyra sie zurückhielt. »Ach, Emily! Kannst du nach der Schule zu mir kommen? Du hast mehr Erfahrung im Onlineshopping. Irgendwie muss ich an braune Kontaktlinsen kommen und irgendjemanden finden, der mir in meine Brille Fensterglas bastelt.«
Emily nickte stumm und trabte schließlich zu Jenny, die immer noch ihren Sensorblick draufhatte. »Und, was ist mit der Gräfin von Hertzberg? Kneifen die neuen Kontaktlinsen oder krabbelt die Glatze?«
Emily ignorierte Jennys Bemerkung, drehte sich noch einmal zu Lyra um und zwinkerte ihrer Freundin zu. Bis später, ich schaffe das.
Davon war Lyra überzeugt. Sie stellte sich gerade vor, wie Emily mit rosa Pausbäckchen und dem unschuldigsten Blick der Welt Herrn Müller die vereinbarte Ausrede ins Ohr säuselte. Das Gesicht vom Müller wäre gerade unbezahlbar, aber Lyra hatte weitaus wichtigere Dinge zu erledigen, als sich über die verklemmte Reaktion eines Mittvierzigers zu amüsieren, der krampfhaft so tat, als wäre er ein cooler Typ.
Als sie die Tür aufschloss, horchte Lyra ins Haus. Erleichtert stellte sie fest, dass sie allein war. Diese neuen Fähigkeiten hatten auch etwas Praktisches. An das außerordentlich gute Gehör musste sie sich noch gewöhnen und irgendwie lernen, die unwichtigen Nebengeräusche auszublenden. Es nervte einfach, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, nur weil drei Straßen weiter zwei Katzen miteinander rauften, im Nachbarhaus der Fernseher lief oder ihre Eltern sich stritten. Auch wenn sie im Flüsterton irgendwelche Unnettigkeiten zischten, Lyra verstand dennoch jedes einzelne Wort, das eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Doch in diesem Augenblick war sie froh, besser hören zu können als ein Hund. Glücklich über ihr Alleinsein streifte sie sich ihre schwarzen Stiefel von den Füßen, hängte ihre schwarze Jacke an den Haken, warf ihre dunkelgraue Mütze zum ebenfalls dunkelgrauen Schal auf den Küchentisch und ging zum Kühlschrank. Dort fand sie einen halbleeren Saftkarton, aus dem sie nun genüsslich trank. Tomatensaft! Früher hatte sie sich ausschließlich von Cola Light ernährt. Sie wusste, dass Zuckerersatzstoffe zumeist das Gegenteil von dem bewirten, was sich übergewichtige Menschen erhofften. Ihre Mutter hatte unzählige Vorträge über die Insulinproduktion in ihrem Körper und das künstlich erzeugte Hungergefühl nach dem Genuss von Saccharin & Co. gehalten. Kurzum: Lyra wusste, dass künstliche Süßstoffe fett machten und schlecht für ihre Drüsen waren. Dennoch war es wie eine Sucht gewesen, von der sie spontan geheilt war, nachdem sie ihren ersten »Anfall« hatte.
Seither trank sie Tomatensaft, und das in rauen Mengen. Miriam war anfänglich sehr argwöhnisch, freute sich aber schließlich über die scheinbare Erkenntnis ihrer Tochter, sich gesünder zu ernähren. Dass Lyra in nur wenigen Wochen knapp zehn Kilo abgenommen hatte, schob ihre Mutter auf genau diesen Umstand. Lyra war sich hingegen nicht sicher, ob es tatsächlich so einfach war. Bisher war sie an Diäten und Kalorienzählen nicht interessiert gewesen. Aber nun, um einige Zentimeter der schwabbelnden Schicht an ihren Hüften erleichtert, war sie ganz glücklich über die Tatsache, dass die Hosen am Bund nicht mehr kniffen und auch die Ärmel ihrer Shirts lockerer saßen. Sogar die Körbchen ihres BHs wurden langsam zu groß, was sie ebenfalls positiv bewertete. Vielleicht passte sie bald in eine 85C? Wer brauchte schließlich solche riesigen Hupen, außer irgendwelche notgeilen Typen, die als Kind von ihrer Mutter zu wenig gestillt worden waren.
Lyra hatte den Karton leergetrunken und wischte sich Reste des roten Saftes von der Oberlippe. Sie zerquetschte das Tetrapack auf Briefmarkengröße und warf es in den Verpackungsmüll. Gelangweilt schnappte sie sich einen Apfel aus der Obstschale und schlenderte ins Wohnzimmer.
Dort schaltete sie den riesigen Smart-TV ein, der die halbe Wand einnahm, und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Bis Emily kam, würden noch Stunden vergehen. Ihr Vater war im Krankenhaus und schnippelte an menschlichen Körpern herum, ihre Mutter versorgte um diese Uhrzeit einsame Senioren in ihrer Allgemeinarztpraxis. Lyra hatte also alle Zeit der Welt, um mal so richtig zu faulenzen.
Es krachte, als sie genüsslich in den Apfel biss. Saft spritzte an ihren Mundwinkeln vorbei. Noch vor drei Wochen hatte Regina penetrant Standpauken gehalten, dass sie mehr Obst und Gemüse essen soll. Das sei schließlich gut für die Zähne und vor allem das Zahnfleisch. Blablabla. Eine Familie, die aus lauter Ärzten bestand, konnte manchmal eine echte Plage sein. Seit einigen Tagen faszinierte Lyra allerdings das Gefühl, wenn ihre Zähne in etwas Hartes und Saftiges bissen. Es war einfach fantastisch, wenn sie in ihrem Mund auf Widerstand stieß, den ihre Zähne mühelos durchbrechen konnten. Hartes Brot oder Nüsse entsprachen ebenfalls diesen Anforderungen, allerdings waren die nicht so schön saftig. Deshalb hielt sich Lyra vornehmlich an Äpfel, Birnen, Gurken und Fleisch.
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