Sie wollte gerade ansetzen, Miriam zu fragen, welche Laus ihr über die Leber gelaufen sei, als sie beim Anblick ihrer Mutter abrupt innehielt. Miriam starrte ihre Tochter an und begann zu zittern. Dann fragte sie heiser: »Was ist mit deinen Augen?«
»Kontaktlinsen! Nicht schön, aber immer noch besser als diese furchtbare Brille. Was deine Tochter nun veranlasst hat, diese grässliche Farbe auszusuchen, weiß nur der Wind. Oder hast du eine Erklärung, Miriam?«
Lyras Mutter stand immer noch wie vom Donner gerührt im Flur und drückte Regina jetzt einen Strauß frischgepflückter Blumen in die Hand. Diese flötete ein paar Höflichkeiten und verschwand erneut in ihrer Küche.
Die beiden jüngeren Frauen schauten sich derweil tief in die Augen. Lyra kam das alles seltsam vor. Was hatte Miriam solche Angst gemacht? Dass sie ihre Mutter nicht anlügen konnte, wusste Lyra, deshalb war sie froh, dass Regina die erklärenden Worte in Bezug auf ihre Augenfarbe ausgesprochen hatte. Doch das allein konnte es doch nicht sein. Warum um alles in der Welt war Miriam so entsetzt?
»Kontaktlinsen, ja?« Miriam Hertzberg trat jetzt näher an ihre Tochter heran, die gerade aufgestanden war. Sie nahm Lyras Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte unsanft ihr Gesicht ins Licht des Fensters. Lyra kam sich blöd vor und versuchte nun doch, ihre Mutter mit einer Lüge zu besänftigen: »Klar! Was denn sonst? Heutzutage kannst du alle möglichen Farben im Netz kaufen. Ich dachte, es wäre ein Gag.«
Schüchtern blinzelte sie ihre Mutter an und tat so, als würde die linke Linse in ihrem Auge verrutscht sein. Sie beugte sich vornüber und tippte sich absichtlich ins Auge, damit es zu tränen begann. »Oh, ich glaube … Sorry, ich muss mal eben ins Bad«, rief sie theatralisch und stolperte in den Flur.
* * *
Vom Badezimmerfenster aus sah Lyra ihre Mutter, wie sie bereits eifrig Holz an den Hackklotz warf. Eine solche Arbeit war nichts für Miriam. Diese Frau war ebenfalls Ärztin, wenn ihr Fachgebiet auch nicht die Chirurgie, sondern die Allgemeinmedizin war. Dennoch hielt Lyra es für eine verdammte Sauerei, dass ihre bescheuerte Großmutter sich nicht einfach einen Holzhacker aus einer Zeitungsannonce suchte oder das Holz gleich in praktischen Stücken kaufte. Stattdessen zwang sie die Frauen ihrer Familie dazu, diese harte und schweißtreibende Arbeit zu verrichten.
Mit einem schlechten Gewissen und in der Hoffnung, dass ihre Mutter sich wieder beruhigt hatte, lief Lyra in den Garten. »Mama, ich mach das schon. Ruh dich aus! Das ist keine Arbeit für dich.« Dabei schaute Lyra ihrer Großmutter energisch in die Augen, die jedoch so tat, als hätte sie nichts gehört. Stattdessen schürzte Regina die Lippen, setzte ihren Herrscherinnenblick auf, als wären Lyra und ihre Mutter lediglich Dienstmägde, und ließ die beiden schließlich allein mit der schweren Arbeit. Verärgert sah Lyra ihrer Großmutter hinterher, griff schließlich nach dem erstbesten Holzscheit und knallte es auf den Hackklotz.
»Aua!«
Ein riesiger Splitter hatte sich tief in das Fleisch ihrer linken Hand gebohrt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht saugte Lyra an der Wunde, bekam mit den Zähnen den bleistiftgroßen Spahn zu fassen und zog ihn heraus. Blut schoss aus dem Loch in ihrer Hand. Sie leckte es ab … und begriff erschüttert, dass ihr der rote Körpersaft außerordentlich gut schmeckte. Das ist doch total bescheuert , ging es ihr durch den Kopf.
Miriam reichte ihr ein frisches Taschentuch. »Hier, drück das fest drauf! Großer Gott, wann war deine letzte Tetanusimpfung? Komm, wir müssen die Wunde säubern.«
Typisch Miriam: einmal Arzt – immer Arzt. Lyra drückte sich das Taschentuch auf die Hand, das sich sofort rot färbte, und folgte ihrer Mutter ins Haus. Regina wirtschaftete in der Küche und rief säuerlich: »Was ist denn nun schon wieder? Wird das mit dem Holz heute noch was?«
Miriam wollte gerade ansetzen, ihrer Schwiegermutter zu erklären, was soeben passiert war. Doch Lyra hielt sie am Arm fest und schüttelte den Kopf. Ihre Mutter verstand. Solch einen »winzigen« Splitter würde eine Regina Hertzberg, die in ihrem Leben noch niemals körperliche Arbeit verrichtet hatte, nicht gelten lassen.
Die jungen Frauen verbarrikadierten sich im Gäste-WC des Hauses. Miriam kramte im Arzneischrank, Lyra setzte sich auf den heruntergeklappten Toilettensitz. In der weisen Voraussicht, dass es gleich wehtun würde, riss sie das blutgetränkte Taschentuch vom Inneren ihrer Hand. Doch da war kein Schmerz. Da war nicht mal mehr Blut. Erschrocken drückte Lyra das schmutzige Taschentuch wieder auf die vermeintliche Wunde.
Miriam hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte, kam mit Desinfektionsspray und einem großen Pflaster auf Lyra zu und beugte sich zu ihr hinunter. Behutsam, wie es nur eine Mutter und Ärztin konnte, öffnete sie Lyras Hand und entfernte das Taschentuch. Entsetzt schaute sie ihre Tochter an. Das kann doch nicht sein , verriet ihr Blick ihre Gedanken. Hektisch warf sie das Taschentuch auf den Boden, sprühte Desinfektionsspray auf Lyras Handfläche und wischte erst vorsichtig, dann immer energischer das getrocknete Blut von der makellosen Haut.
Die letzten Ereignisse waren schon mehr als seltsam gewesen, aber das hier war echt verrückt. Lyra schossen Tränen in die Augen. Sie begriff gar nichts mehr. Ihre Mutter warf resigniert die Sprayflasche ins Waschbecken und ließ sich auf den Fliesenboden sinken. Ein weiteres Mal inspizierte sie Lyras intakte Handfläche, die lediglich rosarot vom vielen Rubbeln war. Aber auch diese Tatsache löste sich gerade in Wohlgefallen auf.
Lyra riss die Hand an ihre Brust und ballte sie zur Faust, als wenn sie die Wahrheit damit ungeschehen machen könnte. Tränen liefen ihr nun ungehindert übers Gesicht. »Mami, was geschieht mit mir?«
»Geht es also los«, antwortete Miriam ihrer Tochter, obwohl ihre Äußerung vielmehr einer Frage glich. Was wusste diese Frau und warum machte sie stets aus allem ein riesiges Geheimnis? Dass ein tiefer Schnitt einfach so verheilte, war im wahrsten Sinne des Wortes nicht von der Hand zu weisen. Aber warum? Wie konnte das sein? Lyra war drauf und dran, ihre Mutter anzubrüllen. Doch diese schüttelte kraftlos den Kopf und zuckte beinahe im selben Augenblick zusammen.
»Was geht los?«, ertönte Reginas Stimme hinter der abgeschlossenen Badezimmertür.
»Das Holzhacken. Wir hacken dir jetzt endlich dein Holz.« Miriam erhob sich schwerfällig und drehte den Schlüssel im Schloss. Augenblicklich sprang die Tür zum Gäste-WC auf, Lyras Großmutter drängelte sich in den kleinen Raum und begutachtete naserümpfend den Fußboden. »Was ist denn hier passiert?«
Miriam sah ihre Tochter an. Lyra wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, obwohl sie sich sicher war, dass ihre Mutter mehr wusste, als sie zugeben wollte. Heute würde sie definitiv nichts von dem erfahren, was in den letzten Wochen tatsächlich mit ihr geschehen war. Deshalb log sie ein weiteres Mal ihre Großmutter an: »Nasenbluten, Oma. Ich hatte nur Nasenbluten. Alles gut. Wir machen dir jetzt dein Holz.«
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