Lyra konnte sich kaum das Lachen verkneifen. »Und was ist mit …«
Emily hielt ihr abwehrend die flache Hand vor die Nasenspitze. »Ich war noch nicht fertig. Warum du auf einmal besser hören kannst, dafür habe ich keine richtige Erklärung. Könnte doch aber sein, dass eine unerkannte Verstopfung sich aus deinen Nebenhöhlen gelöst hat und du einfach vorher halb taub warst. Tja, und das mit deinen Augen … vielleicht doch irgendeine Krankheit oder so. Allerdings frage ich mich, warum du dir Sorgen machst. Schließlich kannst du besser sehen als je zuvor. Deshalb ist doch eigentlich alles gut. Oder nicht?«
Mit offenem Mund starrte Lyra ihre Freundin an und spielte gedankenverloren am Schraubverschluss des Saftkartons. Sie hatte mit allem gerechnet: wahnwitzige Hypothesen, Vergleiche mit alten Geschichten, aktuellen Filmen und Büchern. Aber dass Emily sich so sehr der Wahrheit verschloss, war für Lyra … Ja, was war es denn? Letztlich doch ein Geschenk des Himmels. Vielleicht hatte ihre Freundin sogar recht und Lyra interpretierte schlichtweg zu viel in das Geschehen der letzten Wochen hinein.
Erleichtert stellte sie den Saft in den Kühlschrank und murmelte: »Könnte sein. Viel wichtiger ist doch aber, was wir jetzt unternehmen. Meinst du nicht?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Lyra die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Emily schnappte sich noch einen Keks und folgte ihr.
* * *
Eine knappe Stunde später hatten sie Lyras komplettes PayPal-Konto leergeräumt, das Oma Regina ihr irgendwann für das Onlineshopping zur Verfügung gestellt hatte. Die Alte hatte seinerzeit sicherlich anderes im Sinn als den Kauf von Kontaktlinsen und jeder Menge teuren Equipments. Wenn alles klappte, würde die Lieferung bereits morgen eintreffen, sodass sich Lyra lediglich für den Vormittag etwas einfallen lassen musste, um ihre neue Augenfarbe nicht der Allgemeinheit zu präsentieren. Sie hatte sich vorgenommen, später heimlich im schier endlosen Sonnenbrillenvorrat ihrer Mutter zu stöbern. Bisher hatte sie diese Dinger für affig gehalten, jetzt erfüllte so eine Ray Ban allerdings einen guten Zweck, zumal Lyra festgestellt hatte, dass ihr das Sonnenlicht irgendwie in den Augen brannte.
Während sie noch überlegte, ob sie sich für morgen nicht lieber freinehmen sollte, anstatt mit einer Sonnenbrille wie ein durchgeknalltes Starlet durch die Schule zu laufen, sah sie, wie Emily eine Seite mit Ballkleidern aufrief. Munter scrollte ihre Freundin durch die riesige Auswahl aus Taft und Seide, die in zahlreichen Varianten und Schnitten zur Verfügung standen.
»Das ist ja klar. Für große schlanke Tussis haben die wieder alles Mögliche, für mich kleine Pummelfee ist nichts dabei. Oder meint ihr Mainstreamfaschisten, ich würde in einem gelben Minikleid sexy aussehen … bin ich Biene Maja?«
Mit hochrotem Kopf brüllte Emily den Laptopbildschirm an und klickte dann energisch auf das kleine Kreuz im roten Feld ganz oben rechts. Der Desktop wurde sichtbar und mit ihm das Konterfei von Kate Beckinsale alias Selene.
»Hast du immer noch ein Faible für Underworld? Das ist doch uralter Kram!« Emily war immer noch wütend und versuchte gerade, irgendwie auf andere Gedanken zu kommen.
»Warum schaust du dir Ballkleider an?« Lyra hatte sich in all den Jahren an Emilys spontane Wutausbrüche gewöhnt, deshalb wusste sie ganz genau, wie sie damit umgehen musste. Vor allem seit der Pubertät und Emilys zunehmender Aversion gegen Models, Shopping und gesunde Ernährung wurden ihre emotionalen Entladungen häufiger denn je. Sie hatten zwar nie wirklich darüber gesprochen, dennoch war Lyra sich bisher sicher gewesen, dass das Thema Abiball nicht zur Debatte stand. Insbesondere deswegen, weil es eben keine vernünftigen Kleider in der Konfektionsgröße XL gab.
Emily knabberte an ihrem Daumennagel und schaute Lyra unschuldig an. »Ich dachte ja nur, wir …«
»Was dachtest du? Dass wir uns mit all den Möchtegern-Topmodels herausputzen wie kleine Schlampen, um uns dann auf dem dreckigen Klo der Turnhalle flachlegen zu lassen?« Jetzt war Lyra diejenige, die ihr Temperament nicht zügeln konnte. »Ich dachte, wir waren uns darüber einig, dass wir beiden hässlichen Entlein niemals den sterbenden Schwan bei der Abschlussfeier spielen wollen. Die lachen uns doch alle nur aus.«
Aufgeregt riss sich Emily ein Stückchen Haut aus dem Nagelbett. Schmerz durchzuckte ihren Blick. Lyra war sich nicht sicher, ob dieser vom blutenden Daumen kam oder vielmehr von den Worten, die sie gerade ausgesprochen hatte.
Emily schluckte schwer, dann sagte sie kleinlaut: »Vielleicht möchte ich das aber. Vielleicht will ich den wichtigsten Tag in meinem Leben eben nicht versäumen. Ist mir doch egal, was die anderen sagen. Soll mich doch Jenny und ihre blöde Clique auslachen. Abiball hat man nur einmal im Leben!«
Genervt rollte Lyra die Augen. »Emily, das ist doch Bullshit. Der wichtigste Tag in deinem Leben ist der, an dem du dein Abitur-Zeugnis überreicht bekommst. Meinst du, irgendjemand wird dich später mal fragen, wie besoffen du beim Abschlussball warst und mit wem du getanzt hast?«
»Meine Tochter«, murmelte Emily traurig.
»Was? Wer?«
»Meine Tochter«, wiederholte Emily energischer. »Lyra, wir können uns nicht ewig hinter der Fassade des Fräulein-rühr-mich-nicht-an verstecken. Wir werden irgendwann als alte Jungfern sterben. Und die einzigen, die unsere Leichen finden, werden fünf Katzen sein, die wir uns vor lauter Einsamkeit zugelegt haben. Es wird Zeit, endlich zu begreifen, dass es mehr da draußen gibt, als sich in schwarze Säcke zu hüllen und so zu tun, als würde alles von einem abprallen. Lyra, wir sind nicht cool. Wir sind Außenseiter! Hast du echt noch Bock auf diesen Scheiß?«
»Aber …« Eigentlich wollte Lyra entgegnen, dass Charakter dazugehörte, anders zu sein, eben nicht dem Mainstream zu folgen und auf Gedeih und Verderb dazugehören zu wollen. Dann besann sie sich. In letzter Zeit war zu viel geschehen, was genau das aus ihr machte: eine Außenseiterin. Nur war es etwas vollkommen anderes, ob man sich diesen Status selbst aussuchte oder ob man durch gewisse Umstände dazu gezwungen wurde.
Mit dieser Erkenntnis konnte sie ihrer Freundin nur noch rechtgeben. Es war albern. Deshalb fragte sie jetzt: »Wie ist das überhaupt, gibt es da irgendein Protokoll für den Abiball? Darf man da allein hingehen oder muss man einen Begleiter haben … wie in den amerikanischen Filmen?«
Ein Lächeln bildete sich auf Emilys Lippen. Somit stand felsenfest, dass sie das Thema nicht weiter durchzukauen brauchten, sondern vielmehr nach einer Lösung suchen konnten. Und wenn es jemand draufhatte, ungelöste Ist-Zustände in Ergebnisse zu verwandeln, dann war es Emily, deren Handy sich gerade bemerkbar machte.
Nach einem Blick auf das Display sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Lyra lief ihr nach. »Was ist denn los?«
Sie hörte, wie Emily sich im Flur die Schuhe anzog. »Sorry, ich muss los. Die Partyvorbereitungen müssen warten. Lennard sitzt beim Fußballtrainer und heult. Ich war heute dran, ihn abzuholen. Scheiße verfluchte! Bis morgen …« Dann knallte die Haustür ins Schloss.
Nach der Schule schnappte Lyra ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zum S-Bahnhof. Die Beschäftigung, die heute auf dem Plan stand, war genau das Richtige, um für eine Weile ihre Sorgen zu vergessen und Frust abzubauen. Im letzten Herbst hatte Lyras Großmutter ihr feierlich eröffnet, dass sie nun alt genug sei, für den Winter das nötige Holz zu hacken. Schließlich seien ihre eigenen zarten Hände dafür überhaupt nicht geeignet, Matthias hätte es im Kreuz und Malthe, ihr Kronprinz, müsse auf seine Chirurgenhände achtgeben. Dass sowohl Lyra als auch ihre Mutter grundsätzlich anderes im Sinn hatten, wollte ihre Großmutter nicht wissen. Abgesehen davon konnte Regina sich ohne weiteres leisten, einen kräftigen Fachmann dafür zu bezahlen. Doch sie duldete keine Widerworte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann mussten alle springen. Vornehmlich natürlich Miriam, die nur angeheiratet war und somit quasi einer Dienstmagd gleichkam.
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