Jetzt legte sie die Füße auf den Couchtisch und zappte durch das Fernsehprogramm. Neben den üblichen Realityshows, die sie einfach nur zum Kotzen fand, gab es jede Menge Kochshows, Mord und Totschlag im Assi-TV sowie Krieg, Zerstörung und Epidemien in der Welt. Auf SIXX stoppte sie ihren Zeigefinger, der bisher wild auf den Programmknopf der Fernbedienung getippt hatte. Hier lief aber auch nur eine bescheuerte Hochzeitssendung. Also schaltete Lyra in die Online-Videothek und klickte auf eine Folge von Vampire Diaries .
Manchmal träumte sie davon, so zu sein wie Nina Dobrev. Okay, der Charakter war ziemlich langweilig und schrecklich selbstgerecht. Aber so schön und schlank, geliebt von gleich zwei grandios aussehenden Typen, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet und …
Wie vom Blitz getroffen sprang sie von der Couch. Auf der großen Scheibe des Fernsehers ließ Stefan seine spitzen Zähne gerade genüsslich im Hals einer wunderschönen jungen Frau versinken. Lyra schüttelte den Kopf, schaltete den Fernseher aus und rannte die Treppe nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, knallte sie die Tür hinter sich zu. Die Wand schien zu wackeln, Putz bröckelte aus einem Riss neben dem Rahmen. Ihre neu erworbene Kraft war nicht das Einzige, was sie gerade an die Hauptdarsteller der zahlreichen Horrorfilme und Fantasy-Serien erinnerte.
Mit klopfendem Herzen setzte Lyra sich an ihren Laptop und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, bis die W-LAN-Verbindung hergestellt war und der Internetbrowser endlich startete. Ihre Hände schwebten unsicher über der Tastatur. Was sollte sie ins Suchfeld eingeben … und was hoffte sie zu finden?
Derselbe Instinkt, der ihr scheinbar in den letzten Wochen die Scheuklappen vor die Augen gesetzt hatte und die seltsamen Dinge im Nebel der Ignoranz verblassen ließ, war nun dafür verantwortlich, dass Lyra den Laptop einfach zuklappte.
Was, wenn mir nicht gefällt, was ich erfahre?
Wütend warf sie sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wie allein konnte sich ein Mensch fühlen? Wie einsam machte das ANDERS sein?
* * *
»Hallo? HAAALLLOOOO!«
Lyra erwachte aus einem traumlosen Schlaf und öffnete verwirrt die Augen. Sie sah das Regal mit unzähligen Fantasy-Büchern, die Barbie-Kollektion auf dem obersten Brett – allesamt mit schwarzgefärbten Haaren und ebenso schwarzen Klamotten … die dunklen Vorhänge und die düstere Tapete mit den Goldornamenten … und ihren Schreibtisch mit dem zugeklappten Laptop, der wie die Büchse der Pandora darauf wartete, geöffnet zu werden.
Das schrille Klirren der Haustürklingel zerriss die Stille. Mit ihr die ungehaltene Stimme ihrer Freundin. Emily schien wohl schon eine Weile vor dem Haus zu stehen – so, wie sie gerade dagegen wummerte.
Lyra erhob sich schwerfällig vom Bett. Sie fühlte sich ein bisschen wie Dornröschen nach ihrem hundertjährigen Schlaf. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass sie mehrere Stunden geschlafen haben musste.
Es klingelte erneut und spornte Lyra an, endlich in die berühmten Pötte zu kommen. Eilig lief sie nun die Treppe hinunter und brüllte gegen das Dauerklingeln an, das ihr mittlerweile sensibles Trommelfell fast zum Platzen brachte.
»Ja, verdammt! Ich komme ja schon.«
Genervt riss sie die Haustür auf. Emily stürzte an ihr vorbei und steuerte direkt das Gäste-WC im Erdgeschoss an. Verwirrt blickte Lyra ihrer Freundin nach und ließ die Haustür ins Schloss fallen. Das gesamte Eingangsportal bebte. Erschrocken schaute Lyra sich um. Sie musste wirklich sparsamer mit ihren seltsamen Superkräften umgehen, bevor sie noch etwas kaputt machte.
Die Toilettenspülung rauschte. Eine erleichterte Emily erschien in der Küche. »Boa, das war echt höchste Eisenbahn! Hätte ich noch eine Sekunde länger draußen warten müssen, hätte ich mich an einen Busch in eurem Garten gesetzt. Soviel steht fest.«
Grinsend pflanzte sich Emily auf einen der Barhocker am Küchentresen und nahm sich einen Keks aus der Dose, die neben der Obstschale stand. Lyra beobachtete ihre Freundin, sagte aber nichts. Emily hingegen mampfte bereits ihren zweiten Keks, fragte nach einer Cola Light und berichtete dann aus der Schule.
»Hast nichts verpasst heute. In Mathe haben wir Hausaufgaben auf und in Geschichte gab es zwei Arbeitsblätter. Kannst du nachher von mir abschreiben. Die Tafelbilder aus den übrigen Stunden habe ich dir abfotografiert, damit du dich nicht wieder über meine Sauklaue aufregst. Sonst ist nichts weiter passiert. Alles wie immer.«
Der Rest des dritten Kekses verschwand in Emilys Mund. Lyra stellte ihr ein leeres Glas und eine Flasche Cola neben die Keksdose. »Und der Müller?«
Emily beäugte argwöhnisch die Colaflasche, verkniff sich aber, nach der Light-Variante zu fragen, sondern grinste vergnügt vor sich hin. »Hat voll funktioniert. Ich bin ganz dicht an ihn herangetreten, habe ihm meine Titten an den Oberarm gedrückt und ihm ins Ohr geflüstert, dass du Probleme mit deiner Menstruation hättest. Und ob ihm dieser Grund reichen würde oder er hierüber detaillierte Auskünfte benötige.«
Ein Kekskrümel verirrte sich in Emilys Kehle, als sie laut zu lachen begann. Nun wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Im Bruchteil einer Sekunde stand Lyra hinter ihrer Freundin und klopfte ihr auf den Rücken.
»Aua! Sag mal, spinnst du? Ich habe mich nur verschluckt, dafür musst du mich nicht gleich verprügeln.«
Lyra erschrak … war es doch keine fünf Minuten her, dass sie sich vorgenommen hatte, ihre Kräfte besser abzuwägen. Schuldbewusst streichelte sie Emily über den Rücken und nuschelte ein »Sorry«.
»Ja, ist schon gut. Ich werde es überleben. Jetzt erklär mir endlich, was mit dir los ist?«
Angst flammte in Lyra auf. Sollte sie ihrer besten Freundin erzählen, wovor sie sich selbst am meisten fürchtete? Und was genau sollte das überhaupt sein? Sie wandte sich ab und holte einen neuen Karton Tomatensaft aus dem Schrank. Da niemand sonst in diesem Hause das dicke rote Getränk mochte, konnte sie getrost direkt aus der Packung trinken.
»Lyra, ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Du isst nur noch Obst. Du trinkst dieses furchtbar gesunde Zeug. Du hast jede Menge abgenommen. Du wirst plötzlich von unserem Klassenschönling Niklas Neumann wahrgenommen, der dich fünf Jahre lang wie Luft behandelt hat, und das obwohl deine Frisur mehr als gewöhnungsbedürftig ist. Was zum Geier ist mit dir los?«
War Emily begriffsstutzig oder wollte sie einfach nur das sehen, was sie sehen wollte? Obwohl sie sich nicht gerade wohl bei der Sache fühlte, wagte Lyra den Angriff nach vorn: »Ich esse auch Fleisch, ich kann auf einmal super hören, brauche keine Brille mehr und habe eine andere Augenfarbe.«
Emily nagte mittlerweile appetitlos an ihrem fünften Keks. »Das stimmt. Und was willst du mir damit sagen?«
Lyra hatte keine Ahnung. Sie drehten sich wie zwei Katzen um den heißen Brei. Wohin sollte sie das Gespräch am geschicktesten lenken, ohne Gefahr zu laufen, in eine kommunikative Sackgasse zu geraten oder – schlimmer noch – etwas zu sagen, was nicht wahr sein durfte?
»Ich werde dir sagen, was mit dir los ist, Fräulein!«
Lyra fiel es gerade schwer, ihrem neu erworbenen Supergehör das nötige Vertrauen zu schenken. Was hatte Emily gesagt?
»Ach, echt? Dann schieß mal los!« Mit angehaltenem Atem wartete sie gespannt, was Emily zu sagen hatte.
»Das ist doch vollkommen klar, du bist verknallt!«
Die Pupillen ihrer gelben Augen verengten sich. Was soll das denn jetzt? Das war doch meilenweit vom Thema entfernt. Doch Lyra erwiderte nichts, sondern lauschte weiter auf Emilys Resümee.
»Du hast wahrscheinlich in den Winterferien bei deiner Oma zu viele Liebesfilme und Kitschromane konsumiert. Jetzt spielen deine Hormone verrückt. Deshalb versuchst du, an deinem Aussehen zu schrauben, damit Niklas dir endlich sein Herz schenkt. Oder geht es um den Abiball?« Nachdenklich kratzte sich Emily am Kinn und fügte hinzu: »Irgendwie scheint dein Plan sogar aufgegangen zu sein.«
Читать дальше