»Nimm mich mit! Bitte!«, fleht sie ihn an. Sie ist schon fast bei den Kutschen angekommen, als Love sieht, wie ihr Käufer die Fernsteuerung zückt und sie betätigt. Im nächsten Augenblick spürt Love, wie sich das Stahlband um ihren Hals leicht zusammenzieht. Dem flüchtenden Mädchen ergeht es aber viel schlimmer. Sie stürzt direkt zu den Füßen des Hünen zu Boden und hält sich schreiend mit beiden Händen den Hals. Alle anderen Sklavinnen, einschließlich Love sind auf die Knie gefallen und röcheln nach Luft ringend, doch das dünne Mädchen wälzt sich voller Schmerzen und Panik auf dem Asphalt.
Der Käufer geht die Stufen der Empore nach unten und hört nicht auf, den Sender zu betätigen. Er kommt bei dem Mädchen an und blickt auf sie hinab. Es tritt bereits Schaum aus ihrem Mund.
»Aufhören!«, brüllt die Oberin und Love sieht schon wieder eine ganz andere Frau vor sich. Macht sie sich wirklich Sorgen? Ist ihr das Schicksal des Mädchens vielleicht doch nicht so gleichgültig? Aber der Mann hört nicht auf. Der Hüne reißt dem Käufer schließlich den Sender aus der Hand. Im nächsten Moment lässt der Druck auf Loves Hals nach. Der Mann schaut den Hünen wutentbrannt an und in seinen Augen sieht Love noch etwas anderes. Lust, die Lust zu töten. Sie hat das schon oft in den Augen von Schrottsammlern gesehen. Die Oberin und der dicke Mann streiten und jetzt fängt auch das Gemurmel der anderen Käufer an, lauter zu werden. Der Hüne hebt das Mädchen hoch. Sie liegt vollkommen schlaff in seinen Armen.
»Der Handel ist für heute beendet«, verkündet die Oberin. »Du und du! Helft mit!«, befiehlt die Oberin. Love und ein Mädchen mit dicken, roten Haaren, die wie eine glänzende Welle über ihre Schultern fallen, sind gemeint. Zusammen übernehmen sie die Verletzte aus den Armen des Hünen und tragen sie zurück in den Tower, zurück auf ihr Zimmer. Es befindet sich im gleichen Korridor wie Loves. Sie legen sie ins Bett. Der Brustkorb des Mädchens hebt und senkt sich nur schwach.
»Was ist mit ihrem Halsband los?«, fragt Love. Sie betrachtet den metallenen Reif. Er scheint beschädigt zu sein. Ein paar der Plättchen haben sich gelöst und darunter kommt die Technik zum Vorschein. »Was ist das?«, fragt Love weiter, als sie die kleine Menge Dampf sieht, die austritt und darunter etwas, das wie eine Flüssigkeit schimmert und leuchtet.
»Finger weg! Bevor das Band explodiert«, faucht die Oberin sie an und schlägt Loves Hand beiseite.
»Explodiert?«, fragt die Rothaarige ängstlich. Love kombiniert derweil in ihrem Verstand die Informationen, die sie bis jetzt über das Halsband gesammelt hat.
»Zu Ektoplasma verdichteter Æther«, flüstert sie.
»Sie liegt im Sterben«, flüstert die Rothaarige und Love glaubt wirklich so etwas wie Mitgefühl in den Augen der Oberin zu entdecken.
»Vermutlich ist der Tod die bessere Alternative«, sagt die Oberin leise. »Er ist nicht das erste Mal hier. Er kauft sich jeden Monat ein neues Mädchen«, ergänzt sie und ihre Stimme wird dabei zu einem Flüstern. Love muss an den ekligen Mann denken und ihre Nackenhaare stellen sich auf.
»Wer sind diese Männer?«, fragt Love. »Und was machen die mit uns?«
»Menschen. Und ich will gar nicht wissen, was die Antwort auf deine zweite Frage ist.«
»Menschen?«
»Aus dem Zentrum der Stadt. Aus der Sektion der Menschen. Das Ding hier stammt aus ihrer Technologie. Es funktioniert mit Æther, einer rätselhaften Energie, mit der sie uns bezahlen.«
»Was meinst du damit, das Ding kann explodieren?«, fragt die Rothaarige erneut ängstlich nach. Plötzlich blickt die Oberin auf. Ihr Blick verändert sich wieder zu der gewohnten Härte.
»Ich habe euch schon viel zu viel erzählt. Geht auf eure Zimmer!«, befiehlt sie harsch. Love und die Rothaarige stehen auf. Als sie fast an der Tür sind, hört Love die Oberin noch etwas sagen. »Es tut mir leid.« Es ist nicht mehr als ein tonloses Wispern und Love ist sich nicht sicher, wen sie damit meint und zu wem sie gesprochen hat. Zu dem halbtoten Mädchen, zu ihnen oder zu sich selbst.
Love sitzt in ihrem Zimmer und lässt die Ereignisse Revue passieren. Die Schrottsammler treiben Handel mit den Menschen. Nicht mit irgendwelchen Menschen, sondern mit den schlimmsten Kreaturen, die sich Love vorstellen kann. Sie fragt sich, wer furchtbarer ist. Der Master, der die Mädchen eintauscht oder die Käufer? Beide verdienen eine gerechte Strafe! Sie fasst sich an ihr Halsband. Es funktioniert mit Æther und es gibt eine Art Fernsteuerung, die nicht einwandfrei ist. Warum sonst waren auch die Bänder der anderen Mädchen und ihr eigenes davon betroffen, als der Mann den Sender für das Halsband des schwarzhaarigen Mädchens betätigt hat? Sie muss das Ding loswerden oder es zerstören. Nicht auszudenken, wenn sie an einen ähnlichen Menschen wie diesen Widerling heute verkauft werden sollte. Sie muss verstehen, wie das Halsband beschaffen ist. Ein Buch darüber lesen oder es so wie immer machen. So wie mit allen anderen kaputten Apparaten, die ihr Vater angeschleppt hat. Es auseinanderbauen und die Logik dahinter entschlüsseln. Das ist Loves Talent.
Das Band kann sich um den Hals zusammenziehen und es kann auch explodieren, überlegt sie. Wenn man es öffnet, tritt Dampf aus und darunter hat etwas schwach geleuchtet. Das war das Ektoplasma, kombiniert Love und es ist eine Technologie der Menschen. Mehr weiß sie im Grunde noch nicht darüber.
Die Oberin gibt ihr Rätsel auf. Sie scheint auch eine Gefangene zu sein, auch wenn sie kein metallenes Halsband trägt.
Als es im Korridor ganz still geworden ist und nur noch vereinzelt ein feines Weinen oder leises Schluchzen von einem der anderen Mädchen zu hören ist, schleicht Love lautlos zur Tür. Wie nicht anders zu erwarten war, ist sie abgeschlossen. Türen zu knacken ist für Love ein Kinderspiel. Alles was sie dazu braucht, ist das richtige Werkzeug. Sie löst die kleine metallene Haarnadel und die letzte lange Strähne ihrer ursprünglichen Mähne fällt auf ihre Schultern. Eine Minute später hat sie das Schloss geknackt und öffnet die Tür. Erst einen Spalt breit und als sie sich sicher ist, dass die Luft rein ist, schleicht sie sich hinaus auf den Flur. Drei Zimmer weiter drückt sie die Türklinke nach unten. Diese Tür ist nicht abgeschlossen. Sie schlüpft hinein und findet das arme Mädchen auf dem Bett liegen. Love stülpt sich der Magen um, als sie den Geruch bemerkt. Der Darm und die Blase des Mädchens müssen sich entleert haben. Love presst die Lippen zusammen und versucht, den Geruch, den der Tod mit sich trägt, zu ignorieren. Sie legt zwei Finger auf die Halsschlagader des Mädchens und erhält Gewissheit. Jetzt wandert sie mit leicht zittrigen Händen zu dem beschädigten Halsband und versucht seinem Geheimnis auf die Schliche zu kommen.
In der einen Hand hält Love ein paar der Einzelteile, die sie aus dem Halsband des toten Mädchens entfernen konnte. Mit den Fingerspitzen der anderen berührt sie ihren eigenen Metallreif, der sich eng um ihren Hals legt. Æther? Was für ein faszinierendes Element, überlegt sie, als sie wieder auf dem Flur steht. Was man damit alles machen könnte. Eine unerschöpfliche Energiequelle.
Vielen der Apparate, die Love in den letzten Jahren rekonstruiert hat und leider nie funktioniert haben, könnte sie mit Æther wieder Leben einhauchen. Fast hätte sie über die Faszination ihrer Entdeckung den Tod des Mädchens vergessen. Love schaut sich zu beiden Seiten um. Welchen Weg soll sie wählen? Links geht es zu ihrem Zimmer. Am Ende des Flurs sieht sie eine weitere Tür. Die Neugier siegt. Vorsichtig geht sie Schritt für Schritt auf das Unbekannte zu. Immer einen Finger auf dem Halsband. Wenn sie die Geheimnisse bis jetzt richtig ergründet hat, dann vibriert der Æther, kurz bevor er Energie freisetzt. Sie hat es in ihrem eigenen Halsband gespürt, als das Mädchen davonrannte, und sie hat es auch der Technik des zerstörten Bandes entlockt. Sollte sie sich zu weit von dem Sender entfernen, dann wird der gespeicherte Æther, das Ektoplasma in dem Halsband aktivieren und das Band würde sich um ihren schlanken Hals zusammenziehen.
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