Pater Prinz gab bekannt, dass an diesem Nachmittag alle Internatsschüler bei der Kartoffelernte arbeiten müssen. Dachsberg hatte einen enormen Bedarf an Kartoffeln. Das Kloster wurde von zehn Patres, neun Mönchen, zwei Klosterschwestern und 96 Internatsschülern bewohnt. Viele auswärtige Schüler, wie auch die meisten Lehrer speisten täglich in Dachsberg. Die Ernte wurde jedes Jahr den Internatsschülern aufgezwungen. Wir schwitzten ganz schön in der Spätsommerhitze. Die Zeit schien endlos, da es sehr eintönig war, ständig nur Kartoffel in die Kübel zu werfen, und das Feld war riesig. Nach der Schinderei gab es wenigstens ein besseres Abendessen als sonst.
Mit der Zeit lernten wir die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung im Internat kennen. Wir spielten im Freizeitraum Gesellschaftsspiele oder spielten auf den langen Gängen fangen, was verboten war. Im Keller gab es zwei Räume, wo wir Tischfußball spielten. Mich faszinierte, dass dort an der Wand ein riesiger Batman aufgemalt war. Den anderen Raum zierten Mini- und Micky-Maus.
Als Guido und ich nachmittags auf den Weg ins Zimmer waren, kamen uns zwei Zimmerkollegen entgegen, um Pater Angleitner zu holen. Mit ihm kamen noch andere Schüler in unser Zimmer. Der „starke“ Bub Thomas weinte laut und bitterlich in seinem Bett. Er hatte Heimweh und war nicht zu beruhigen. Ihn so zu sehen tat mir sehr leid. Ich hatte mein Heimweh schon etwas überwunden. In der Schule am nächsten Tag begann ich ein Gespräch mit Thomas. Er war sehr nett und lachte sogar, als wir von zu Hause sprachen. Guido verteilte in der Pause „Heimweh-Tabletten“. Die sahen nicht nur aus, sondern schmeckten auch wie „Dixi“ Traubenzucker. Natürlich hatte niemand etwas gegen Medizin, die gut schmeckt, und der Placebo-Effekt zeigte Wirkung.
Mittwoch abends hatten wir immer Filmtag. Es wurden alle zwei Wochen im barocken Festsaal ältere Kinofilme auf die Leinwand auf der Theaterbühne projiziert. Das Rattern des Filmprojektors, der die Filmstreifen durch zog, faszinierte mich. So etwas hatte ich als Bub vom Bauernhof noch nie erlebt.
In der nächsten Woche hatten wir unseren ersten Wandertag. Wir wanderten zusammen mit der „B-Klasse“ durch St. Marienkirchen, wo wir bei den Eltern einer Schülerin etwas zu trinken bekamen. Danach erreichten wir Egg nahe Pollham, wo wir bei Christophs Mutter ebenfalls unseren Durst löschen konnten. Wir gingen ungefähr zwei Stunden von Dachsberg nach Pollham. Das war beruhigend für mich zu wissen, dass ich zu Fuß so schnell nach Hause kommen würde. Unsere Essenspause hatten wir bei der Jausenstation „Wirt in der Pfleg“, wo es riesige „Wizeln“ gab, die auch meine Oma gern machte, allerdings viel kleiner. Weiter führte unser Marsch über den Magdalenaberg nach Bad Schallerbach. Dort wohnte die Sportlehrerin der Mädchen Professor Rosenauer, die uns zusammen mit Frau Professor Söllinger und Frau Professor Geidl begleitete. In Bad Schallerbach angekommen wartete schon ein Bus, der uns wieder zurück nach Dachsberg brachte.
Im Unterrichtsfach Religion hatten wir einen jungen Lehrer, von dem ich sehr beeindruckt war. Ich fand den Religionsunterricht von ihm sehr interessant. In der Volksschule las uns der Pfarrer in Religion gewöhnlich etwas Langweiliges vor.
In Biologie hatten wir einmal draußen Unterricht. Wir betrachteten die Pflanzen im Garten des Maierhofes, wo sich die Zimmer der Patres und der anderen Ordensleute befanden. An diesem Tag plauderte ich etwas intensiver mit Thomas, vor dem ich am ersten Tag so Angst hatte. Wir verstanden uns sehr gut und wurden Freunde. Die meiste Zeit verbrachte ich aber mit Guido.
Es war schon die vierte Schulwoche, als wir zum ersten Mal Spaß mit den externen Schülern hatten. Isabell Landl schrieb auf gelbe Klebezettel Sprüche wie „Du dumme Sau“ oder „Du blöder Affe“. Diese Zettel klebten dann auf den Rücken einiger Mitschüler, die diese wieder jemand anderen auf den Rücken klebten. Guido riss sich gerade einen Zettel mit der Aufschrift „Ich bin so blöd“ vom Rücken und überlegte, wer sein nächstes Opfer sein könnte. Er stand am Katheder des Lehrers und beobachtete die Klasse. Seine Hand mit dem Zettel hatte er unbewusst am Katheder. Nikola, die stellvertretende Klassensprecherin, sah Guido und rief im Eifer ihres Amtes: “Habt Ihr das gesehen, Guido klebt den Zettel „Ich bin so blöd“ auf den Katheder von Frau Professor Söllinger!“ Sie drohte ihm: „Guido, das melde ich!“ Der Klassensprecher Christof Bauer war auch dafür, es zu melden, dass Guido die Söllinger für blöd hält. Es war offensichtlich, wir hatten bei der Klassensprecherwahl schlecht gewählt. Seither gab es eine Kluft zwischen den Externen- und den Internatsschülern.
Als nach der Pause die Söllinger hereinkam, stürmten Christof Bauer und Nikola nach vorn zum Katheder und berichteten: “Frau Professor, der Guido hat einen Zettel auf Ihren Tisch gelegt, auf dem steht, dass Sie blöd sind!“ Sofort zog Nikola den verhängnisvollen Zettel aus ihrer Hosentasche und reichte ihn der Söllinger. Der Klassensprecher und Isabell bestätigten den Vorfall. Die Söllinger richtete ihren tötenden Blick auf Guido und fällte sogleich das Urteil: “Guido, Du bekommst eine Mahnung nach Hause geschickt!“ Sie wurde etwas lauter und fügte hinzu: „Bei der dritten Mahnung wirst Du von der Schule gegangen!“ Den Ausdruck „von der Schule gegangen“, hörten wir noch öfter in diesem Schuljahr.
Wir hatten unseren ersten Skandal in der Klasse! Der völlig unschuldige Guido musste sich schrecklich gefühlt haben. Er hat vor Angst keinen Ton von sich gegeben, auch weil ihm die Söllinger keine Gelegenheit dazu gab. Ahnungslos, wie es sich wirklich zugetragen hatte, unterschrieb der Direktor Pater Biregger die Mahnung. Diese Ungerechtigkeit sollte nicht die Einzige bleiben für den armen Guido. Die Eltern, die so eine Mahnung bekamen, mussten denken, aus ihren Kindern sind kleine Monster geworden. Es wurde monatlich ein Internatsbericht über unser Verhalten an die Eltern verschickt, der voller Übertreibungen bezüglich kindlicher Streitigkeiten war. Ich bekam deswegen oft Probleme mit meinem Vater, da ich so ein schlimmes Kind geworden bin.
Es war Anfang Oktober und man spürte, dass der Sommer endgültig zu Ende war. Wir konnten die Abendfreizeit nur noch drinnen verbringen. Jetzt, da das erste Schulmonat zu Ende war, durften wir endlich von der Indoor-Telefonzelle nach Hause telefonieren. Voller Freude nutzte ich das und rief jeden Tag nach dem Mittagessen meine Mutter an. Endlich durften auch wir ins zehn Minuten entfernte Geschäft, um einzukaufen. Der Greißlerladen „Pucher“ war der beliebteste Treffpunkt in der Vier-Uhr-Freizeit. Der alte Pucher hatte die Buben gerne und quatschte lange mit uns. Es fiel ihm auf, wenn einer länger nicht kam, und er fragte, ob derjenige krank ist. Guido und ich machten uns in der Freizeit auf, den Dachsberger Wald zu erkunden. Die anderen spielten meistens Fußball oder Tennis.
Im Sportunterricht mussten wir am Beginn jeder Stunde weit joggen. Es wurde immer kälter, und das Joggen wurde unerträglicher. Schließlich mussten Guido und ich wegen der Kälte unsere Spaziergänge im Wald einstellen. Eigentlich war es einfacher, drinnen zu spielen, denn wir mussten jedes Mal die Erlaubnis des diensthabenden Präfekten einholen, um draußen spazieren oder einkaufen zu dürfen. Am meisten Spaß machte uns das Fangenspielen auf den langen Gängen. Dabei fassten wir saftige Strafen aus, wenn wir erwischt wurden.
Schloss, Schule und Internat Dachsberg mit dem Maierhof 1985
Der Tagesablauf im Internat war bereits Routine geworden:
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