Wir waren alle überrascht, als wir am ersten Schultag schon eine umfangreiche Hausübung von Frau Professor Söllinger bekamen. Um elf Uhr entließ sie uns, und wir mussten gleich zu Pater Angleitner in den Studiersaal gehen. Er teilte uns mit, dass wir nun zur „Ausgabe“ von Pater Prinz gehen müssen, um uns Packpapier für das Auskleben unserer Pultladen zu holen. Dort bekamen wir auch weiteres Schulzeug wie bunte Leuchtstifte, Lineale, Hefte usw. Alles, was wir dort holten, wurde auf die Internatsrechnung gesetzt.
Danach mussten wir unser Taschengeld bei Pater Köckeis abgeben, der es in einer Eisenkassette verwahrte. Wir konnten es in der sogenannten „Geldausgabe“ wieder bekommen. Nur 25 Schillinge (1 Euro und 80 Cent) durften wir behalten. Nach dem Auskleben der Pultladen mussten wir die Hefte und Bücher einbinden und alles in das Pult einräumen. Diejenigen, die das Pult am schönsten eingeräumt hatten, bekamen nach der Kontrolle von Pater Angleitner Waffel oder Schokolade zum Verdruss der weniger Ordnungsbegabten.
Um 13.05 gab es jeden Tag Mittagessen. Es wurde vor und nach dem Essen gebetet. Jeder bekam einen Platz im Speisesaal zugewiesen. Ich saß am Tisch nahe dem Eingang. Unser „Tischmeister“ war Glas Peter aus der vierten Klasse. Die Aufgabe des Tischmeisters bestand darin, das Essen auszuteilen und für Ordnung zu sorgen. Als disziplinarisches Mittel gab es „Nachschubverbot“. Unser Tischmeister war Gott sei Dank gerecht beim Verteilen des Essens, im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden. Jedem Tisch waren bei den Kühlregalen zwei Boxen mit der jeweiligen Tischnummer zugewiesen, in denen wir unser mitgebrachtes Essen unterbringen mussten. Die überfüllten und schweren Boxen mussten in den großen Pausen von den zugeteilten Schülern auf die Tische getragen werden. Da ging öfters etwas zu Bruch, wie zum Beispiel Flaschen. Zusätzlich gab es für jeden Tisch einen Kasten für Brot und Getränke, wo alles sicher war.
Nach dem Essen wollte ich mich im Zimmer etwas ausruhen und alleine sein. Der Gang zu den Zimmern war versperrt! Auf dem Weg in den Studiersaal sah ich eine hölzerne Telefonzelle in der Aula. Dort stellten sich Schüler an, um zu telefonieren. Als ich mich auch anstellte, kam Pater Angleitner auf mich zu und teilte mir mit: “Walter, die Neuen dürfen im ersten Monat nicht telefonieren!“ Ich verstand nicht, warum das verboten war. Mir kamen die Tränen, weshalb ich wirklich allein sein wollte. Wieder fand ich keinen Platz, wo ich mich zurückziehen konnte. Um Viertel nach vier nachmittags begann die Freizeit. Einige Schüler fragten den Präfekten, ob sie Süßigkeiten einkaufen dürfen. Ich war überrascht, dass es hier mitten am Land ein Geschäft gab. Als Christoph und ich fragten, ob wir auch einkaufen gehen dürfen, sagte Pater Angleitner: “Hab ich nicht schon gesagt, dass die erste Klasse im ersten Monat nicht weggehen und nicht telefonieren darf?“
Als wir um acht Uhr ins Bett gehen mussten und das Licht abgedreht wurde, musste ich wieder weinen. Ich hatte starkes Heimweh. Ich lag lange wach im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich fühlte mich, als wäre ich nur hier, weil ich etwas Schlimmes angestellt hatte, wovon ich nichts wusste. Ich hatte das Gefühl, dass ich sehr weit weg von zu Hause war.
Es war wieder morgen, und der Junge namens Guido zog sich an, obwohl es erst sechs Uhr war. Er weckte den vom Heimweh geplagten „starken“ Buben und fragte ihn, ob er mit ihm in die Kirche gehen möchte. Ich überlegte, woher er wusste, dass man hier um halb sieben in die Messe gehen konnte.
An diesem Schultag ging der Unterricht richtig los. In Deutsch schrieben wir schon einen Aufsatz, und in Englisch mussten wir bei der blonden Dame die Hausaufgabe abgeben. Guido und ich machten uns nach dem Unterricht näher bekannt, und am nächsten Morgen ging ich mit ihm in die Kirche. Es war Freitag, und am folgenden Tag werde ich endlich nach Hause fahren. Nach dem Unterricht wurde das Pult wieder kontrolliert, und die Ordentlichsten bekamen wieder Süßigkeiten von Pater Angleitner, und dieses Mal sogar ich. In der Freizeit erzählten Guido und ich einander von zu Hause, und ich wünschte, ich wäre schon dort.
Endlich war Samstag, und es war soweit: Um Viertel nach elf werde ich nach Hause fahren. Wir hatten eine Fahrgemeinschaft mit den Eltern der Schüler aus meinem Heimatdorf. Manchmal fuhren wir auch mit einem Lehrer mit, der aus Pollham war. Daheim, als wir beim Essen saßen, fragten mich meine Eltern, wie es mir in Dachsberg gefällt. Ich überspielte meine Gefühle und antwortete: “Es geht so.“ So wie auf der Karte, die alle am ersten Schultag schreiben mussten, um sie nach Hause zu schicken:
Liebe Eltern und Geschwister!
Es gefällt mir gut hier in Dachsberg. Das Essen ist gut, und das Wetter ist auch recht schön. Mein Klassenvorstand heißt Prof. Brigitte Söllinger, und sie ist sehr nett. Ich komme am Samstag heim.
Euer Walter!
Blick von zu Hause auf Pollham und die Alpen
Nach dem Essen im Kreis der Familie ging ich nach draußen und setzte mich auf die Bank vorm Haus. Ich betrachtete die Blumen, die Bäume, die Wiesen und die Felder. Ich kannte jeden Baum und jedes Detail unseres Gartens. All das schätzte ich erst jetzt, weil ich es nicht mehr jeden Tag sehe. Ständig musste ich daran denken, dass ich am nächsten Tag um sieben Uhr abends wieder in Dachsberg zurück sein muss. Als meine Mutter im Stall die Kühe molk, schilderte ich ihr meine wirklichen Gefühle und weinte. Mama konnte mich gar nicht beruhigen. Ich bat sie, nicht mehr dorthin zu müssen.
Nachts schlief ich in meinem eigenen Bett endlich wieder gut. Am Sonntag war ich die ganze Zeit nervös. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als dass ich um halb sieben wieder wegfahren musste. Diesmal nahm ich viele Packungen Fruchtsaft mit, weshalb meine Tasche sehr schwer wurde. Als wir am Schild „Ausfahrt Schule“ abbogen, wurde mir richtig übel.
Meine Geschwister und ich 1985: Sabine, Walter (ich), Ulli und Thomas
Wir mussten in der zweiten Schulwoche einen Klassensprecher wählen. Nach zwei Wochen kannten wir einander kaum, wodurch diese Wahl keinen Sinn hatte. Dem entsprechend war das Ergebnis: Christof Bauer. Unser Klassenvorstand Frau Professor Söllinger nahm es sehr genau mit dieser Wahl. Wir mussten die Wahlzettel in eine Schuhschachtel mit Schlitz einwerfen. Die Frau Professor machte dann bei den jeweiligen Namen der Kandidaten Striche. In den Folgejahren durften sich nur Schüler mit einem „Sehr gut“ in „Betragen“ aufstellen lassen. Das galt jetzt noch nicht.
Bei einem Fußballspiel Lehrer gegen Lehrer dachte Guido, dass Professor Lehner und Professor Söllinger ein und dieselbe Person wären, und wir stritten deswegen. Beim Mittagessen plauderte ich mit Christoph, als ich schroff gestoppt wurde: “Weinbergmair, sei sofort still!“ Ich erschrak sehr! Pater Prinz marschierte in die Mitte des Speisesaales und begann mit seiner Rede, bei der er jeden Tag Verschiedenes bekannt gab. Seine Anrede mir gegenüber mit „Weinbergmair“ beschäftigte mich etwas. Noch nie zuvor wurde ich mit meinem Nachnamen angesprochen. Nach seiner Rede folgte das Dankgebet, das wie alle anderen Gebete mit dem Satz beendet wurde: „Heiliger Franz von Sales, bitte für uns!“ Am nächsten Tag beim Mittagessen war Pater Prinz witzig angezogen. Er hatte ein sehr altmodisches Hemd mit einem übergroßen Kragen und orange-blauen Streifen an. Dazu trug er eine Hose, die mit Farbe bekleckert war. Beim Mittagessen sagte mir Pater Prinz, dass es in einer höheren Klasse noch einen „Weinbergmair“ gibt. Ich kannte keinen und dachte nicht, dass er zu mir verwandt war.
Читать дальше