Schon als Jugendlicher musste Josy ins Kloster eintreten, da seine Mutter eines Ihrer Kinder Gott opfern wollte. Die Mutter ist zwar verstorben, aber wenn Josy aus dem Kloster austritt, ist er so gut wie mittellos. Er würde auch im Alter fast keine Pension erhalten. Das ist der Grund, warum Josy mit 50 Jahren wieder zurück im Kloster ist!
Er bietet uns Erdbeeren aus „seinem“ Ordensgarten an. Es sind gut gedüngte Walderdbeeren, die gleich groß sind wie Felderdbeeren. Dann zeigt er uns sein Holz zum Schnitzen, das er von jener Tischlerei erhielt, in der er die letzten zwei Jahre gearbeitet hat. Wenigstens kann so niemand behaupten wie schon einmal, dass er das Holz des Klosters unterschlagen hätte. Wir spazieren im Dachsberger Wald zur Lourdes-Grotte und frischen unsere Erinnerungen auf.
Am Rückweg zum Schloss treffen wir den Ordensrektor und Direktor des Gymnasiums, meinen ehemaligen Erzieher. Als ich mit Dobi voriges Jahr hier war, war er sehr unfreundlich. Wir klopften damals an Pater Angleitners Tür und grüßten ihn freundlich. Er erwiderte unseren Gruß nicht. Trotzdem fragten wir nach Wolfgang, unserem ehemaligen Erzieher, den wir besuchen wollten. Pater Angleitner nahm den Telefonhörer, wählte rasch und legte sofort wieder auf. So schnell hätte Wolfgang nicht ans Telefon gehen können! Der Pater murmelte genervt, dass niemand da sei und wir nicht länger stören sollen. Dabei kam in mir das ungute Gefühl wieder hoch, das ich während meiner ganzen Zeit in Dachsberg hatte. Am Maturaball, vier Jahre nach meiner Internatszeit, war Pater Angleitner sehr freundlich. Wahrscheinlich, weil wir am Ball freiwillig gearbeitet haben und damit eigentlich für ihn als Direktor.
Josy schlägt vor, uns im neuen Schulgebäude herumzuführen. Es hat sich einiges verändert hier. Josy probiert, ob sein Schlüssel zum ehemaligen Bastelraum noch passt. Zu Josys Überraschung wurde das Türschloss nicht ausgewechselt. Josy erinnert sich, als er mit uns die Weihnachtskrippen in diesem Raum geschnitzt hat: „Damals war die schönste Zeit meines Lebens!“ „Du hast Dich richtig aufgeopfert für uns!“, ergänze ich. Josy war damals Hausmeister des Klosters, Schulwart, Mesner, Organist und Gärtner. Seine Arbeit mit uns an den aufwendig geschnitzten Weihnachtskrippen machte er in seiner Freizeit und aus eigener Initiative. Josy meint: „Ich habe viel dabei gelernt, außerdem habe ich es sehr gern gemacht!“ Ich danke ihm, dass er mir einem handwerklich hoffnungslosen Fall beim Krippenbauen so sehr geholfen hat. Meine „Orientalische Weihnachtskrippe“ wird nach wie vor jedes Jahr zu Weihnachten aufgestellt. Immer noch glaubt mir fast niemand, dass ich zu so einem Kunstwerk fähig war!
Im Speisesaal des Ordens, der Hunderte Jahre das Gericht im Schloss Dachsberg war, plaudern wir über viele Erinnerungen und die zahlreichen Veränderungen. Die Sitzordnung der Patres und Brüder gleicht auch heute eher einem Tribunal, nur dass jetzt ein großes Gemälde vom Heiligen Franz von Sales anstatt des Doppeladlers in der Mitte der Wand hängt.
Wir verabschieden uns von Josy, der anmerkt: „Wenn Du einen eigenen Wagen hast, kannst Du ja öfter her kommen!“
Jährlich gibt das Internat Dachsberg eine Zeitschrift heraus, in der es hauptsächlich um das Leben im Internat geht. Aufgrund der Schilderungen von heutigen Internatsschülern merkt man, wie sehr sich alles hier zum Besseren verändert hat. Aus dem Internat Dachsberg ist jetzt eher ein Schüler-Wohnheim geworden.
Meine Erinnerungen an die für mich harte Zeit und die Veränderungen in Dachsberg sind Ansporn für mich, alles aufzuschreiben, was ich dort erlebt habe.
10. September 1985: Es war ein schwüler, bewölkter Spätsommertag, an dem meine Mutter und ich Bettzeug, Kleidung und Schulsachen packten. An diesem Tag zog ich als Zehnjähriger in das Internat Dachsberg.
Im Februar hatte ich mit meinen Eltern das Gymnasium und Internat besichtigt. Wir hatten damals einen Termin mit dem Heimleiter P. Prinz vereinbart. Es schneite und war sehr kalt an diesem Sonntagnachmittag. Wir fuhren durch St. Thomas, wo mein Onkel lebte und nach ein paar Minuten waren wir schon in Dachsberg. Es war also nicht weit von zu Hause.
Wir betraten das Internatsgebäude, das wir glücklicherweise sofort fanden bei diesem Dorf ähnlichen Gebäudekomplex. Auch das Präfektendienstzimmer war leicht zu finden, wo gerade ein älterer Herr telefonierte: „Tut mir leid, unser Heimleiter Pater Prinz ist heute leider nicht hier. Bitte rufen Sie morgen wieder an. Auf Wiederhören!“ Mein Vater fragte trotzdem: „Grüß Gott, wo finden wir Herrn Pater Prinz?“ „Ja“, antwortete Pater Elias: „Der ist heute nicht da. Ich kann Sie aber zu unserem Direktor führen!“
Mir flößte das Gebäude wegen seiner Größe Angst ein. Das war für mich als Kind vom Lande eine völlig andere Welt. Wir begrüßten den Direktor Pater Biregger. Meine Eltern sprachen mit ihm über mein Halbjahreszeugnis von der Volksschule: „Ob Walter mit einem Dreier in Mathematik überhaupt aufgenommen werden kann?“ Pater Biregger meinte: „Leider sind wir ja schon ziemlich voll für das nächste Schuljahr, aber wenn jemand ausfällt, werden wir ihn aufnehmen. Es fallen jedes Jahr welche aus!“ Er führte uns durch einen dunklen, fensterlosen Gang zur Kapelle, als mich plötzlich ein totes Zebra, dessen Fell an der Wand hing, erschreckte. Ich war etwas verängstigt, was Pater Biregger merkte: „Ich muss mich entschuldigen, es brennt kein Licht, weil ja am Sonntag kein Schulbetrieb ist!“ Vorm Eingang zur Kirche war eine dicke Betonsäule und ein großes Kreuz mit einem lebensgroßen voll Schmerz und Wunden gezeichneten Christus.
Zur Kapelle musste man durch eine schmale Schiebetür die Stiege hinunter gehen. Unten war es eiskalt! Pater Biregger erklärte: „270 Personen finden hier Platz.“ Später als Schüler bei Schulgottesdiensten merkte ich, wie wenig Platz das war. An der Altarwand hing eine übergroße, sehr ungewöhnliche Jungfrau Maria mit ausgestreckten Armen, die mir vorkam wie ein Jüngling. Der Direktor sagte über die Statue: „Das ist unsere Sonne!“ Er meinte allerdings den Heiland Jesus, also doch keine Jungfrau Maria! Die ganze Kapelle wirkte sehr seltsam und kühl in ihrer Siebzigerjahre-Architektur.
Wir gingen zu den kleinen Seitenaltären. Pater Biregger fragte mich: „Walter, wer ist denn der Mann, der da im Seitenaltar dargestellt ist?“ Ich sah das bunte Glasbild an und antwortete: „Das weiß ich nicht!“ Pater Biregger war über mein Unwissen überrascht: „Das ist der Heilige Josef mit dem Jesuskind!“ „Aber der Josef hat doch einen Bart?“, entgegnete ich. Anscheinend war in dieser Kirche alles ein wenig anders. Anschließend zeigte er uns den Bastelraum. Die Fenster vom Bastelraum, durch die man in den Turnsaal blicken konnte, gefielen mir. Wir besichtigten noch den Festsaal mit der barocken Bühne und den Speisesaal. Das war der einzige Raum, der mich glauben ließ, dass Dachsberg ein Schloss ist. Am Weg zum Auto faszinierte mich ein Übergang mit Fenster direkt über der Straße.
Als wir von meinem ersten Besuch in Dachsberg nach Hause kamen, sagte ich zu meiner Mutter: „Mama, mir gefällt es dort nicht, ich will da nicht hin!“ Sie meinte: „Das wird schon! Wenn Du erst einmal dort bist, wird es Dir schon gefallen!“ Ich dachte, wenn kein Platz frei wird, nehmen sie mich sowieso nicht!
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