Die Bedienung des Vorabends war leider nicht vor Ort, aber Hauptkommissar Voigt erhielt seine Privatadresse, sodass er ihn zu Hause erreichen konnte.
„Wissen Sie, ich hatte das Gefühl, dass sich die Beiden nicht zum ersten Mal begegnet sind. Das Ganze kam mir doch ziemlich vertraut vor. Sie lachten viel, tranken sächsischen Wein und zum Schluss noch zwei unserer guten hausgemachten Schnäpse. Gegessen haben sie jeder nur eine Hauptspeise, aber die sind ja, wie Sie wissen, bei uns auch immer ziemlich üppig. Ich musste sie dann mehr oder weniger rausschmeißen, weil sie sonst weiter gefeiert hätten. Wie Sie eventuell wissen, war Ingrid ja auch ein lebensfreudiger Mensch, wobei mir auffiel, dass sie zum Schluss dann doch ziemlich müde war.“
Voigt überlegte. „Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen?“
„Natürlich. Jetzt, wo Sie es sagen. Der weiße Anzug der Begleitung war schon etwas unpassend und sehr auffällig. Durch sein wenig aufgeknöpftes Hemd konnte ich so etwas wie ein Tattoo erkennen. Eins davon war auf jeden Fall ein Totenkopf. Aber vielleicht habe ich mich da auch getäuscht. Es war ja nicht mehr ganz so früh und ich hatte an dem Tag eine Hochzeitsveranstaltung vorbereitet und war dadurch etwas müde. Aber durch den weißen Anzug und das helle Hemd schimmerte schon einiges durch.“
Voigt notierte sich sämtliche Details und sagte mit trauriger Stimme: „Nur, damit Sie es wissen, Ingrid Engel ist gestern ermordet worden und der Herr, der sie begleitet hat, steht unter dringendem Mordverdacht. Eine kurze Frage. Wo waren Sie, nachdem Sie das Lokal verlassen haben?“ Nach einer kurzen, bedächtigen Pause antwortete er leise.
„Ich bin direkt gegen 22h15 zu meiner Familie gefahren. Sie können meine Frau fragen. Sie ist in der Küche.“
Hauptkommissar Voigt überlegte kurz, verneinte dann aber, da er wusste, dass seine Ehefrau befangen war und zudem ihrem Gespräch an der Türe zugehört hatte. Voigt bat ihn allerdings darum, nachmittags im Präsidium vorbeizukommen, um ein Phantombild vom vermuteten Täter erstellen zu lassen. Er verabschiedete sich und wies erneut auf den späteren Termin im Revier hin. Auf dem Rückweg klingelte sein Telefon. Elisabeth Winkler war in der Leitung.
„Hallo Herr Polizeihauptkommissar. Sie hatten versucht mich zu erreichen?“.
„Ja“, antwortete Voigt.
„Bitte kommen Sie direkt zu uns ins Revier. Wir möchten mit Ihrer Hilfe ein Phantombild des Täters erstellen lassen.“
„Ich bin auf dem Weg“, antwortete Elisabeth. „Bis gleich.“ Elisabeth Winkler und die Bedienung des Restaurants trafen mehr oder weniger zur selben Zeit im Kommissariat ein. Sie wurden hintereinander in das Zimmer gerufen, um eine gegenseitige Beeinflussung der Täterbeschreibung zu vermeiden.
„So. Wie haben Sie den Mann spontan in Erinnerung?“ Elisabeth antwortete sofort.
„Schwarze Haare und relativ kurz geschnitten, also drei bis vier Zentimeter lang.“
„Langsam, langsam!“, antwortete der zuständige Sachbearbeiter. “Ungefähr so?“
„Ja. Perfekt. Außerdem ziemlich dichte Haare. Dunkle Augenbrauen. Augenfarbe blau. Keinen Bart und einen relativ großen Mund mit dickeren Lippen. Größere Ohren als Standard. Körpergröße circa einen Meter achtzig. Weißer Anzug und weißes Hemd, darüber ein schwarzer Mantel. Muskulöser Hals und eventuell ein oder zwei Tattoos am Oberkörper, die am Ansatz des V-Ausschnitts seines Hemdes mit etwas Fantasie zu erahnen waren.“
Voigt war skeptisch. „Wie konnten Sie die Tattoos erkennen, wenn er über seinem Anzug noch einen Mantel anhatte?“
Elisabeth antwortete direkt. „Er trug den Mantel über seinem Anzug, das ist richtig. Allerdings hatte er zeitweise beide Hände in seinen Hosentaschen, sodass beide Kleidungsstücke nach hinten gedrückt wurden und sein Hemd ohne Probleme sichtbar war. Sobald er sie aus den Taschen nahm, sah man seine großen und dicken Finger. Sonst sind mir keine Besonderheiten aufgefallen. Ach doch, der geringe hessische Dialekt, den ich, wie bereits erwähnt, an dem einen Wort „gell“ erkennen konnte.“
„Danke Elisabeth. Hier geht es im Moment aber nur um das Phantombild. Meinen Sie, dass dieses Bild ungefähr der Realität entspricht?“
„Ja, so habe ich ihn in Erinnerung.“
„Ihren Hinweis auf einen eventuellen hessischen Dialekt, werden wir separat im Text der Fahndung angeben. Könnten Sie bitte den nächsten Zeugen, der vor der Türe wartet, hereinbitten?“
„Dunkle, kurze und dichte Haare. Augenbrauen dunkel, allerdings waren die Augen blau, was ja bei Dunkelhaarigen selten ist, aber gerade das fällt einem dann auf. An den Mund und die Lippen kann ich mich nicht so richtig erinnern. Ich glaube Standard, also normal, unauffällig. Körpergröße einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter fünfundachtzig. Durchtrainierter, sportlicher Körper, und wie bereits zu Hause angedeutet, meines Erachtens ein bis zwei Tattoos auf dem Oberkörper, Höhe beginnender Hals. Ja. So ist es perfekt. Ach, und natürlich der weiße Anzug und der schwarze Mantel.“ „Vielen Dank. Falls Ihnen in den nächsten Tagen weitere Dinge einfallen sollten, rufen Sie uns bitte unverzüglich an.“
Direkt im Anschluss erstellte die Kripo ein Täterprofil, ergänzt durch das Phantombild und stellte es intern bundesweit in alle Polizeisysteme zur Fahndung ein. Hauptkommissar Gerhard Voigt unterstrich erneut die Dringlichkeit der Tätersuche, da es sich um einen sehr organisierten Täter und potenziellen Serienmörder handeln könnte.
Hauptkommissar Voigt fuhr nach einer schlaflosen Nacht erneut zum Tatort. Der Herbst war nicht mehr aufzuhalten. Es regnete. Die goldroten Blätter der Bäume wurden durch den starken Wind bis zum Waldrand geweht, sodass der Fundort der Leiche durch den nassen Boden und die Blätter nur noch schwer zu erkennen war. Grübelnd lief er hin und her. Er konnte sich den Hintergrund der Tat bisher nicht erklären. Ingrid Engel war eine attraktive Frau um die 50 Jahre. Ein anscheinend alter Bekannter, der zu Besuch in Freiberg ist, freut sich sie zu sehen, geht mit ihr essen und bringt sie danach um. War der Mord geplant? Woher hatte er das Messer? Warum zog er ihr das Engelskostüm an? Welche Bedeutung hatte der Himmels-Engel auf ihrem blutgetränkten Hals, und warum kündigte er an, dass diesem Mord noch ein weiterer folgen sollte? Täter und Opfer schienen sich zu kennen, aber woher? Voigt war klar, dass er noch mehr über das Leben der Toten erfahren musste. Unterbrochen wurde sein Grübeln vom Klingeln des Telefons. Herr Wunder, der Professor der Rechtsmedizin, war in der Leitung.
„Hallo Herr Voigt. Anhand der Einstiche im Hals haben wir nun auch herausgefunden, um welche Art Messer es sich gehandelt haben dürfte. Es muss sich um ein Messer aus dem zweiten Weltkrieg handeln. Die genaue Herkunft konnten wir leider noch nicht bestimmen, aber wir sind dabei, weitere Informationen einzuholen. Man erkennt es an den Einstichformen und den teilweise sich im Hals befindenden Micro-Rostresten.“
„Danke Ihnen. Über weitere Informationen bin ich Ihnen sehr dankbar.“ So richtig viel hatte ihm diese zusätzliche Erkenntnis allerdings nicht gebracht. Im Gegenteil. Ein Messer aus dem 2. Weltkrieg sorgte eher für noch mehr Verwirrung. Auf jeden Fall waren die Kollegen bundesweit durch die bisher zur Verfügung stehenden Informationen alarmiert, was ihm etwas Hoffnung machte. Fest stand, dass sich der Mörder nicht mehr in Freiberg aufhalten dürfte, doch wo könnte er jetzt sein? Die Vermutung lag nah, dass sich der Täter mit dem Zug Richtung Dresden auf die Reise begeben haben könnte, da dieser Bahnhof eine Art Knotenpunkt für die Weiterfahrt in diverse andere Destinationen ist. Indizien wie der weiße Anzug oder der fehlende Bart durften bei der Suche aktuell nicht mehr ausschlaggebend sein, da diese beiden Merkmale schnell geändert werden konnten. Bisher gab es relativ wenig Anhaltpunkte, und die Welt ist leider groß .
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