Ihre Ratlosigkeit und die Sorge um ihren Sohn, der den ganzen Nachmittag kein Wort herausgebracht und es sich anstatt dessen vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, standen ihr ins Gesicht geschrieben. Willi sah, dass sie mit den Tränen kämpfte, und ihn überkam plötzlich ein flaues, mitleidiges Gefühl im Bauch. Doch er konnte ihr nicht erzählen, was heute Nachmittag passiert war.
„Mama, bitte, es ist echt alles ok!“, versuchte er sie abermals zu beruhigen.
Willis Eltern waren nicht leicht aus dem Zimmer zu bekommen. Seine Mutter hätte gern noch mit ihm geredet. Da aber sein Vater merkte, dass er allein sein wollte, lotste er sie nach unten. Auf der Treppe unterhielten sie sich heftig und Willi machte sich Vorwürfe, dass sie sich seinetwegen stritten. Völlig erschöpft ließ er sich rücklings auf sein Bett fallen. Was für ein chaotischer Tag dachte er. Sein Doppelgänger hatte den ganzen Nachmittag vor der Glotze gehangen oder seine Eltern beobachtet. Tolles unauffälliges Verhalten! Wenn sich dieser Trottel immer so merkwürdig verhält, werden meine Eltern nicht lange brauchen, bis sie dahinter kommen, dass etwas mächtig daneben läuft. Willi schüttelte fassungslos seinen Kopf. Was der neue Gelegenheitsmitbewohner sonst noch so getrieben hatte, hatte er erfahren, als dieser durch ihn hindurchging. Eklig! Bei dem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken. Gelähmt vor Erschöpfung blieb er auf seinem Bett liegen und starrte an die Zimmerdecke.
Es war ein grandioser Sternenhimmel, der sich ihm bot. Jedoch sah er extrem ungewöhnlich aus. Die Sterne leuchteten grell, waren überdimensional groß und schienen greifbar nah zu sein. Man konnte ihre Oberfläche deutlich erkennen. Kleine und große Krater befanden sich auf der feinsandig anmutenden Außenschicht und wechselten sich wie auf einer Kette aufgefädelt ab. Dabei verliehen sie den Planeten eine übernatürliche Schönheit. Willi lag auf einer Wiese. Er griff mit beiden Händen in nasses Gras und starrte zum Himmel. Es war kalt und seine Kleider waren feucht. Er spürte bereits die Nässe auf seiner Haut und begann zu frösteln.
Seine Versuche aufzustehen scheiterten, er konnte sich überhaupt nicht regen. Was war mit ihm los? Wie versteinert lag er da. Panische Angst stieg in ihm auf und er fragte sich, wie er in diese missliche Lage kommen konnte. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und mobilisierte alle Kräfte, die er hatte. Wieder und wieder versuchte er, sich aufzusetzen. Doch alles, was er bewegen konnte, waren seine Hände. Der Rest seines Körpers gehorchte ihm nicht. Stoßartig verdeckte sein heißer Atem die Sicht auf das Firmament. Auf einmal hörte er ein Geräusch. Heftig und laut atmend lief jemand über die Wiese.
Als ob er mit den Augen hören könnte, kniff er sie zusammen und wartete, bis er erneut etwas wahrnahm. Er glaubte Schritte zu vernehmen und dann drang ihm plötzlich ein Furcht einflößendes Schnauben, das nur von einem Tier kommen konnte, durch Mark und Bein. Unbändig, einem Raubtier gleich, spielte dieses unbekannte Wesen mit seiner Angst, wie die Katze mit einer Maus. Als ob sich Krallen in seine Haut bohrten, übermannte ihn das blanke Entsetzen. Willi wollte nicht atmen, um so leise und wachsam wie möglich zu sein. Sein Puls pochte wild in seinem ganzen Körper, dass er befürchtete, man könnte ihn meterweit hören. Es war nunmehr ein entsetzliches Keuchen, das näher und näher kam. Seine Augen tränten inzwischen – er wollte sie jetzt keine Sekunde mehr schließen. Es musste nun ganz nah sein, denn er konnte es riechen. Dieser Geruch, der ihm unweigerlich in die Nase stieg, war so widerlich, dass ihm übel wurde. Es stank nach verwestem Fleisch mit einer merkwürdig süßlichen Note. Auf einmal verstummte das Keuchen. Willi hielt den Atem an. Ganz langsam verdunkelte sich einer der großen Sterne, den er die ganze Zeit angeblickt hatte.
Ein riesiger Hundekopf schob sich drohend über sein Gesicht. Widerlicher, warmer, zähflüssiger Schleim tropfte auf seine Wangen. Willi schrie auf. Er erblickte riesige Zähne und ein noch größeres Maul. Ekliger Speichel hing über seinem Kopf. Als die roten Augen seinem Gesicht immer näherkamen, brüllte er aus Leibeskräften. Sein Körper wurde durchgeschüttelt und sein Name schallte in seinem Ohr.
„Willi, wach auf! Was ist mit dir los? Willi?“, schrie seine Mutter und rüttelte an ihm.
Willi erwachte schweißgebadet und sah in die angsterfüllten Augen seiner Mutter. Sie riss ihn an sich und umarmte ihn so fest, dass er kaum Luft bekam. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er nur geträumt hatte. Noch ganz benommen sah er sich in seinem Zimmer um. Nur ein Albtraum. Alles gut. Willi war froh, dieses Monster los zu sein.
„Du hast schlecht geträumt, mein Großer“, sagte seine Mutter und strich ihm über den Kopf.
„Ja, es geht schon wieder. Ich muss mich nur umziehen“, sagte Willi, als er bemerkte, dass die volle Montur, in der er eingeschlafen war, nun klitschnass geschwitzt war.
„Ist gut, ich gehe wieder runter in die Küche. Kommst du dann Abendessen?“, fragte seine Mutter.
„Wie spät ist es?“
„Halb acht, Zeit zum Essen“, sagte sie mit besorgter Stimme und schaute ihn bedrückt an. „Und du hast wirklich keine Probleme oder Sorgen, Willi?“
„Hab ich doch gesagt. Alles super.“
„Und Du fühlst dich auch nicht krank? Immerhin hast Du nachmittags noch nie mit Albträumen im Bett gelegen!“
„Nein, Mama, jetzt gib schon Ruhe. Es ist alles okay!“
Seine Mutter verließ sein Zimmer und Willi hatte ein bisschen Zeit sich zu sammeln und umzuziehen. Sein Kopf fühlte sich befremdlich gedankenleer an. Selbst die merkwürdigen Geschehnisse in der Zwergenwelt waren in diesem Moment verblasst und ihm beinahe entfallen. War das vielleicht ein Schutzmechanismus? Sollte er zur Ruhe kommen, so wie es Macvol ihm zum Abschied gesagt hatte? Wieso hatte er dann diesen abscheulichen Albtraum? Verwirrt darüber, keine Antworten auf seine vielen Fragen gefunden zu haben und müde schlich er die Treppe hinunter und setzte sich an den Abendbrottisch. Nach dem ungewöhnlich schweigsamen Abendessen verzog sich Willi gleich in sein Bett und ließ seine Eltern in dem Glauben, dass er von dem schulischen Stress einfach ausgelaugt und erschöpft war.
Am nächsten Morgen wollte Willi nicht aufstehen. Seine Beine fühlten sich wie Blei an. Er hatte furchtbaren Muskelkater in den Oberschenkeln und Kopfschmerzen. Doch er schaffte es irgendwie, sich aus dem Bett zu quälen. Seine Mutter hatte schon das Frühstück fertig, als er langsam die Treppe runter schlich.
„Oh Gott, wie siehst du denn aus?“, rief sie erschrocken. „Du bist ja ganz blass. Ich wusste doch schon gestern, dass Du etwas in Dir stecken haben musst!“
„Mutter, ich hab Kopfschmerzen, bitte nicht so viel reden, ok?“
Willi war gereizt und schlapp. Er kaute missmutig an seinem Brötchen rum und trank nur wenig von seinem Kakao. Seine Schildkröte Trude lag derweil dösend in ihrem Häuschen und blinzelte gelegentlich zu ihm heraus. Ich würde jetzt gern mit dir tauschen, dachte er und stapfte schweren Schrittes ins Bad. Als er vor dem Spiegel stand, glaubte er für einen Augenblick, dass er sich irgendwie verändert habe. Doch sein trübes Gemüt ließ ihn diesen Gedanken schnell wieder vergessen.
Auf dem Weg zur Schule holte er Georg ab, der es, so hatte es den Anschein, kaum erwarten konnte, zum Unterricht zu erscheinen. Er hatte einen so schnellen Schritt drauf, dass Willi Mühe hatte, ihm zu folgen. Das lag allerdings nicht nur an seinem Muskelkater, auch sonst war Georg immer der Schnellere von beiden. Mit seinen raumgreifenden Schritten, die aufgrund seiner Beinlänge möglich waren, konnte er fast jeden abhängen. Nicht umsonst war er Stürmer in der Schulfußballmannschaft.
„Warum rennst du so, wir haben noch genug Zeit?“, protestierte Willi nach einigen quälenden Metern.
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