„Ich laufe wie immer. Was ist los, lahme Kröte?“, lachte Georg und tätschelte Willi auf die Brust.
„Ich hab …, ach nichts“, stoppte Willi seinen Erklärungsversuch.
Beinahe hätte er sich verraten. Ich muss aufpassen, was ich sage, dachte er bei sich. Georg darf nicht merken, dass ich lahme. Willi schluckte einmal kräftig und lachte seinem Freund breit ins Gesicht. Es war ihm nicht wohl dabei, dass er Georg nichts erzählen konnte. Zu gern hätte er sein Erlebtes mit seinem besten Freund geteilt. Und sicher würde es ihm dann besser gehen.
Aber in seinem Ohr hallten noch die Worte von Macvol, niemandem etwas von seinen Erlebnissen zu erzählen. Ehrfürchtig und unsicher schwieg er und war dabei alles andere als glücklich.
„Lahme Kröte - das wollen wir sehen!“
Er klopfte Georg auf die Schulter und rannte davon. Schon nach ein paar großen Sätzen bereute er seinen Übermut. Aber nun konnte er nicht schlappmachen. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, Georg auf Abstand zu halten. Nicht daran denken, dann tut´s bestimmt nicht so weh, murmelte Willi vor sich hin. Und tatsächlich, mit jedem Schritt wurden die Schmerzen etwas erträglicher. Willi wurde immer schneller. Als sie bei der Schule ankamen, rächte sich sein falscher Stolz trotzdem unerbittlich. In jeder Faser seiner Beine spürte er nun ein starkes Brennen. Er schrie auf und hätte sich am liebsten hingesetzt. Auch Georg, der etwas später eintraf, keuchte heftig.
„Mann, du bist ja heute Rekordtempo gerannt. Hast wohl heimlich trainiert, Streber?“, hechelte Georg anerkennend und stützte sich dabei auf seine Oberschenkel.
„Wenn es zur Schule geht, kenn ich nichts. Da geb ich alles“, lachte Willi und freute sich über seine enorme Laufleistung.
„Sieh mal an, wen wir hier haben. Die Zwillinge Willi und Georg, die Tag und Nacht zusammenkleben“, stichelte Babbel, der gerade mit seiner Herde Trottel auf den Schulhof kam.
„Pass auf, was du sagst, Spinner“, fauchte ihn Georg an und richtete sich auf.
„Du stinkst schon, wenn du zur Schule kommst.“
Babbel rümpfte seine Nase auffällig und verzog angewidert sein Gesicht. Mit einer abfälligen Geste boxte Babbel Georg auf die Brust und sprang abwehrbereit zurück zu seinen Freunden, die ebenso dumm wie drollig aus der Wäsche schauten.
„Und du, Soter, stinkst wie zehn alte Ochsen. Er zeigte mit gestrecktem Mittelfinger auf Willi und spuckte ihm vor die Füße.
Stieg Willi vorhin das Blut vor lauter Anstrengung in den Kopf, war es nun die blanke Wut, die ihn in Rage brachte und seinen Kopf purpurrot leuchten ließ. Hätte es ein Ventil gegeben, würde dieses jetzt lautstark zischen. Er war so wütend wie lange nicht mehr. Entschlossen ging er auf Babbel zu und rammte ihm seinen Ellbogen in den schwabbeligen Bauch, sodass dieser nach Luft japste und sich krümmte.
„Lass uns in Ruhe du Pfeife und nimm deine Kriecher mit“, sagte Willi mit einer finsteren Miene und war bereit, einen möglichen Gegenangriff abzuwehren.
Babbel kniete inzwischen am Boden und gab nur prustende Laute von sich.
„Das hat noch ein Nachspiel, darauf kannst‘e wetten“, drohte Babbel nach einer Weile, doch es hörte sich nicht wie eine Drohung an.
Dazu war seine Stimme zu hoch und zu leise. Langsam halfen ihm seine Kumpels auf. Immerhin hatten sie viele Kilos zu stemmen, das brauchte etwas Zeit.
„Ich freu mich schon“, sagte Willi wenig beeindruckt. Gestützt von Jupp, Rex und Harm, blickte Babbel im Vorbeigehen drohend in Willis Gesicht, war aber nicht in der Lage, verbal zu kontern. Als die Vier davon geschlichen und im Schulgebäude verschwunden waren, kam Georg auf Willi zu und schaute ihn respektvoll an.
„Dem hast du´s aber gegeben. Wo hast du denn diesen Schlag hergenommen? Ich glaub, der lässt uns von nun an in Ruhe“, sprudelte es freudig aus Georg heraus.
„Das glaube ich nicht. Er wird sich rächen wollen“, war sich Willi sicher. „Komm, sonst verpassen wir noch was.“
Er zog Georg an der Jacke und gemeinsam gingen sie die Treppe zur Schule hinauf. Willi war aber nur dem äußeren Schein nach bereit für die Schule. Innerlich war er verwirrter denn je.
Noch vor zwei Tagen hätte er sich nie gewagt, Babbel die Stirn zu bieten, geschweige denn den Mut aufgebracht, ihm einen Schlag zu verpassen. Für einen Moment dachte er, nicht er, sondern jemand Fremdes hätte Babbel den Ellenbogenhieb versetzt. Irgendetwas hat sich verändert, ist mit ihm passiert. Tief in seinen Gedanken versunken stieß er plötzlich mit jemandem zusammen. Er hörte, wie Bücher zu Boden krachten und gleichzeitig eine hohe Stimme fluchte und schimpfte.
„Mann, kannst du nicht aufpassen, Idiot!“, fauchte ein Mädchen, das, wie Willi vermutete, eine Klassenstufe über ihm war.
Ihr schwarzes, fransig geschnittenes Pony fiel ihr frech ins Gesicht. Sie trug einen kurzen Zopf, der buschig nach oben stand. Willi musste innerlich ein wenig lachen, weil er ihren Zopf ungewollt mit einem Stimmungsbarometer verglich.
„Tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen“, entschuldigte sich Willi und bereute es, nicht einen besseren Spruch auf den Lippen gehabt zu haben.
Dabei blickte er ihr in die Augen und bekam in dieser Sekunde ein Kribbeln im Bauch, das sich wie eine Welle in Windeseile über seinen ganzen Körper ausbreitete. Sie hatte wunderschöne, grünbraune Augen, die gefährlich funkelten. Für ein paar Sekunden sahen sie sich wortlos an. Die Spannung zwischen ihnen war zu viel für seine Knie. Weicher und weicher wurden sie und drohten, vom Liebeswahn geschwächt nachzugeben. Doch plötzlich pulverisierte sie die aufkommende Romantik schroff:
„Ja, na klar. Ne blödere Anmache hab ich noch nie erlebt.“
Hektisch sammelte sie ihre Bücher und Zettel zusammen und kroch dabei vor Willi hin und her.
„Ich helfe dir“, schlug Willi versöhnlich vor.
„Lass mal, du hast schon genug durcheinandergebracht“, sprach sie nun freundlicher, aber immer noch ins Zettelsortieren vertieft.
Willi ließ es sich nicht nehmen und bückte sich nach ein paar losen Blättern. Als er sich umdrehte und sie ihr geben wollte, war sie aber schon auf und davon. Verwundert über ihr schnelles Verschwinden, sah er sich die Blätter an. Es waren sehr ordentliche Aufzeichnungen aus Geografie und Mathe. Terese Huf stand auf einem der Blätter. Willi sprach den Namen mehrmals leise vor sich hin, als ob er sich bei ihm noch einmal entschuldigen könnte. Sie gefiel ihm ausgesprochen gut. Sie hatte so zarte Gesichtszüge, eine kleine schmale Nase und einen dazu passenden regelrechten Kussmund. Erdbeerrot – himmlisch!
Und sie wirkte keineswegs hilflos oder scheu. Eher im Gegenteil - stark und irgendwie mystisch. Komisch, dass sie ihm noch nie aufgefallen war. Willi faltete die Blätter zusammen und steckte sie in seine Schultasche. Georg, der etwas weiter vorne lief, hatte vermutlich nichts von seinem Zusammenprall mitbekommen. Er kam zu ihm zurück und fragte Willi, mit wem er da grade gesprochen hatte.
„Terese Huf heißt sie. Du kennst sie auch nicht?“, fragte Willi etwas enttäuscht.
„Hab sie erst ein oder zweimal gesehen. Sie muss neu an der Schule sein, geht in die Zehnte“, sagte Georg und blickte Willi verschmitzt ins Gesicht.
„Ach, du weißt ja doch was“, sagte Willi, gierig nach mehr Informationen.
„Nein, mehr weiß ich nicht. Ist ja auch nicht so wichtig, oder?“, entgegnete Georg neugierig und verzog dabei seinen Mund.
„Ich finde sie jedenfalls ganz interessant.“
Willi errötete, als ihm das rausgerutscht war. Georg blickte ihn etwas komisch an und nickte dann langsam, als ob es ihm dämmerte, was plötzlich mit seinem Freund passiert war.
„Interessant findest du sie? Aha. Sag mal, bist du mein Kumpel Willi? Willi Soter? Der schüchterne Willi aus der Ministadt Drehbach, Kornweg 7?“, lachte ihm Georg frotzelnd ins Gesicht. „Hast wohl heute früh eine extra Portion Kakao von Muttern bekommen. Wenn der so wirkt, komm ich ab morgen zu euch frühstücken“, versuchte er die Wandlung seines sonst ziemlich schüchternen Freundes zu erklären. „Soll ich Philipp aus der Zehn fragen, ob sie mit dir gehen will?“
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