„Willst du nicht, dass ich mitkomme?“, warf er scheinbar fürsorglich ein. Sie schüttelte den Kopf und ging hastig zur Schiebetür. Bald darauf stapfte sie auf dem gewundenen kleinen Kiespfad in Richtung Zaun.
Luke hatte keine Zeit zu verlieren. Er schnappte sich Samiras Tasse und trank sie in einem Zug aus. Dann schüttete er seinen eigenen Kaffee in ihren Becher, wischte mit dem Ärmel seines Hemdes das auf, was danebengegangen war und unterdrückte ein Rülpsen. Tränen standen ihm in den Augen. Der Kaffee war verdammt heiß.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Samira wiederkam. Luke war das nur recht, so konnte sie sich nicht sehr wundern, dass er seinen Kaffee schon ausgetrunken hatte. Aber dafür war ihrer, wie sie nun klagte, nur noch lauwarm.
„Tu ihn doch in die Mikrowelle“, riet Luke ihr beiläufig. Wenn sie ihn jetzt einfach wegschüttete und sich einen Neuen machte … Sie verzog das Gesicht. „Ach“, knurrte sie zu seiner unendlichen Erleichterung, „so geht’s noch.“ Sie leerte die Tasse in drei langen Zügen und schüttelte sich.
„Und, hast du was gesehen? Wo warst du so lange?“, fragte er und lehnte sich schnaufend zurück, der Magen vor Kuchen aus allen Nähten platzend.
„Da waren komische Spuren in der feuchten Erde am Zaun. Ich denke, das war nur ein Tier, aber wir sollten die Augen offen halten.“
„Gut, machen wir.“
Samira schaltete den Fernseher ein, und zusammen sahen sie sich die Jerry-Springer Show an. Luke begann nach zwanzig Minuten, zu gähnen. Das fiel ihm nicht schwer; der Kuchen lag in seinem Magen wie ein Wackerstein und zuzusehen, wie sich irgendwelche Rednecks gegenseitig mit Wackelpudding bewarfen, war auch nicht so das Gelbe vom Ei. Samira bemerkte seine Schläfrigkeit mit Befriedigung.
Nach weiteren zehn Minuten schloss Luke die Augen und tat, als dämmere er langsam weg. Er hatte schon Übung darin, er öffnete die Augen wieder ein bisschen … Schloss sie wieder ... Murmelte etwas … und atmete in langen, tiefen Zügen, den Körper vollständig entspannt. Samira stand sofort vorsichtig auf und schlich die Treppe hoch. Oben ging sie ins Bad. Lukes Blutdruck stieg, als er hörte, dass sie nicht die Treppe wieder herunterkam, auch nicht ins Schlafzimmer ging … sondern weiter … zum abgeschlossenen Hexenzimmer! Ja, kein Zweifel, da drehte sich der Schlüssel langsam im Schloss und die Tür wurde fast geräuschlos geöffnet. Beinahe sofort hörte er den wütenden Schrei, und er kam nicht aus Samiras Kehle.
Luke sprang auf und rannte so schnell er konnte die Treppe rauf. Dass Samira ihn hören konnte, war ihm egal. Er bog um die Ecke und betrat keuchend das Hexenzimmer. Dort stand Samira und starrte auf den offenen Spiegel. Der schwarze Stoff lag als unordentlicher Ballen daneben, genau dort, wo Luke ihn achtlos hingeworfen hatte. Im Spiegel war Samira, aber sie bewegte sich nicht synchron mit der, die davor stand. Sie führte jetzt ein Eigenleben. Ihre Hand hob sich, ein spitzer Nagel wies anklagend auf ihn.
„ER!! ER WAR HIER!!! VERRAT! TÖTE IHN! ER HAT GESEEEEHN!“, kreischte sie schrill.
Samira starrte Luke eine Sekunde sprachlos an. Dann erfasste sie alles, seinen Verrat, seine Herumschnüffelei, sein Vorgeben, die Drogen zu nehmen, und sie sprang ihn mit einem ebenso schrillen Kreischen an wie ihr Spiegelbild. Luke war darauf nicht vorbereitet. Ihre langen Nägel krallten sich in sein Gesicht und ein Knie wurde in seinen Unterleib gerammt, aber da hatte Samira sich verrechnet, denn die von ihr selbst angemästeten Speckschwarten fingen das Schlimmste ab und er knickte nicht wie erhofft vor Schmerz zusammen.
Aber Samira war völlig außer Kontrolle. Sie schrie und kreischte, sie biss ihn in den Oberarm, sie kniff ihn und versuchte, einen Zeigefinger in sein Auge zu rammen. Luke wusste, wie stark sie für gewöhnlich war, aber heute war sie nicht in Form. Vielleicht wirkte das Mittel ja schon. Trotzdem verlor er unter diesem hasserfüllten Bombardement das Gleichgewicht und fiel hin. Sofort warf sie sich auf ihn, und ihr Spiegelbild feuerte sie kräftig an.
„Los, zeig dem Penner, was `ne Harke ist! Gib’s ihm! Mach ihn fertig!“ Das Spiegelbild hüpfte aufgeregt auf und ab wie bei einem besonders spannenden Boxkampf. Aber Luke hatte inzwischen ihre Arme zu fassen bekommen und hielt sie fest. Samira keuchte, Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht und ihre Kräfte erlahmten. Plötzlich sackte sie auf ihm zusammen, fast wie sie es im Bett immer tat, und fiel kraftlos zur Seite. Das Bralocolin hatte endlich gewirkt, und da Samira kaum halb so viel wog wie Luke und nicht an so hohe Dosen gewöhnt war wie er, war sie von einer Sekunde auf die andere völlig weggetreten und nicht nur schläfrig. Vielleicht reichte die Dosis sogar aus, sie endgültig aus dem Weg zu schaffen.
„Verdammte Kacke! Das kann doch nicht wahr sein!“, tobte die Samira im Spiegel, „steh wieder auf! Er entkommt dir noch!“
„So schnell nicht, du Hexe“, keuchte Luke, „erst mal werde ich mich hier umsehen. Die macht mir keinen Kummer mehr.“
„Was hast du getan“, fauchte die Spiegel-Samira, „wie hast du das gemacht?!“
„Ich habe ihr nur sprichwörtlich eine Dosis ihrer eigenen Medizin verabreicht“, lächelte Luke. Obwohl es ihn gruselte, trat er näher an den unheimlichen Spiegel heran. Samira starrte ihn böse an, konnte aber nichts tun.
„Wer oder was bist du“, flüsterte er.
„Na, ein Spiegelbild, du hirnloser Elch!“
„Das sehe ich auch! Aber wie kommt es, dass … dass du …“
„Dass ich ein Eigenleben habe?“
„Ja. Genau.“
„Wieso sollte ich dir das sagen?“
„Weil mir sieben Jahre Pech nichts ausmachen. Ich hatte schon viereinhalb Jahre unsägliches Pech. Und jetzt auch wieder. Komme doch glatt in ein Hexenhaus.“
„Das würdest du nicht wagen!!“
„Willst du es drauf ankommen lassen?“
Sie schwieg und warf einen nachdenklichen Blick auf die am Boden liegende Samira.
„Die wird so schnell nicht mehr munter. Du kannst dich ruhig mit mir unterhalten.“ Luke griff, um sie noch mehr zu reizen, nach einem der alten Bücher.
„Stell das sofort weg!“
„Was is’n das?“
„Eine Grimoire, du Idiot. Das sagt dir sowieso nichts, du dummes Stück Affenscheiße!“
„Ein so hübscher Mund … und dann kommen da solche Seemannsflüche raus. Zum Glück weiß ich, dass du auch andere Sachen damit machen kannst, und die gefallen mir sehr viel besser! Also, beantwortest du jetzt alle meine Fragen, oder soll ich schon mal ein Kehrblech holen?“
Die falsche Samira holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre grünen Augen bohrten sich voller Hass in Lukes, aber der wandte sich ab und blätterte in dem Buch. Die Seiten waren alt und bräunlich, die Tinte dunkelbraun. Aber Luke hatte in seinem Leben schon genug getrocknetes Blut gesehen, um es auch in einem alten Buch zu erkennen. Wieder schauderte es ihn.
„Was willst du wissen?“, knurrte Samira indes und warf einen schnellen Blick auf das Original, das noch immer bewusstlos am Boden lag.
„Was steht hier drinnen?“
„Beschwörungsformeln, Flüche, die Namen der Dämonen und ihre Rangordnung in der höllischen Hierarchie, die wahre Entstehung der Welt und alles über die menschlichen Schwächen und Sündhaftigkeiten. Jetzt bist du trotzdem nicht viel schlauer, was, du Hornochse?“ Sie warf den Kopf zurück und lachte verächtlich. Das Lachen brach aber sofort ab, als Luke nach einem der Schädel griff und ihn drohend hob.
„Schon gut“, rief sie hastig, „also, was willst du wissen?“
„Was kann man damit anfangen?“
„’Man’ kann damit gar nix anfangen“, ätzte sie ironisch, „nur Hexen können eine Grimoire richtig benutzen. Und du bist keine. Also vergiss es.“
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